@Eric: Och, ich finde, solche Romane, die mit der Sache zu tun haben, sind aufschlußreich und wichtiger als ein Dutzend uninspirierte Blätter, die das Laden des Threads in die Länge ziehen.
Daß Du selbst der Leiter dieser Sessions bist, wußte ich nicht. Da kannst Du dann natürlich selbst die Zeit, welche die Modelle stehen, nicht wirklich für Dich nutzen.
Ein, zwei Punkte hast Du bei meiner Kritik wohl etwas mißverstanden. Erstens: Ich denke nicht, daß es Sinn machen würde, Deine Zeichnungen, die Du hier zeigst, noch anhand solcher Kriterien wie "stimmige Anatomie" zu kritisieren. Es ist offensichtlich, daß Du die Anatomie im Griff hast und wenn da mal was nicht stimmt bei Deinen Zeichnungen, dann ist das wie ein Vertipper beim SChreiben (das große C hier z.B.): Es wäre kein Problem für Dich, dies bei Bedarf richtig zu stellen. Natürlich gibt es immer noch was zu lernen, auch was die Anatomie betrifft - aber wie Du selbst sagst, kann man das auch in anderen Zusammenhängen, und ich sehe da gerade bei Dir auch keinerlich erhöhten Bedarf. Du hast die Anatomie gut drauf, so wie die meisten der Profis hier (wie z.B. Daniel, Robolus, Henrik Fetz usw.).
Also geht es mehr darum, was über das bloße Abbilden der Modelle bei Deinem Aktzeichnen geschieht. Anatomiekenntnisse müssen von Dir nicht demonstriert werden, und fotorealistische Darstellung ist wahrscheinlich weder von Dir intendiert noch in der Kürze der Zeit überhaupt realisierbar. Du sagst ja selbst: Es geht um die jeweilige Intention.
Und da muß ich selbst an meine Aktzeichnungs-Zeiten zurückdenken. Ich hatte eine Hand voll schlechter Aktzeichen-Lehrer und einen extrem guten Lehrer. Die schlechten Lehrer konnten teilweise noch nicht mal so gut zeichnen wie ich, hatten dafür aber ihre ganz festgefügten Meinungen, worauf es beim Aktzeichnen ankäme und versuchten, uns Studenten diese Vorstellungen auf Gedeih und Verderb einzubläuen. Ich erinnere mich immer noch mit Schaudern an eine Dozentin, die immer mit einem Besenstiel in die Posen der Modelle "hineinstach", um uns irgendwelche räumlichen Achsen anzudeuten, die angeblich wichtig waren. Wir hatten häufig zwei Modelle, deren Pose etwas mit Interaktion zu tun hatten - Du kannst Dir vorstellen, wie nervig und die "Muse" störend derlei Interventionen waren.
Aber ein Aktzeichenlehrer war wirklich hervorragend. Ob der besser zeichnen konnte als ich, werde ich wohl nicht mehr erfahren. Eine Bekannte von ihm erzählte mir, er habe in seiner Jugend Aktzeichnungen gemacht, die besser als welche von Raphael gewesen seien... Heute macht er "moderne Kunst", schreibt philosophische Sprüche an Galeriewände, läßt sich im Tüllkleidchen von Bodybuildern durch seine Ausstellung tragen usw. - also total abgedrehtes Zeug.
Der war also unser Aktzeichenlehrer, ein Georgier, der immer nur Englisch mit uns sprach und in den Zeiten, wo wir zeichneten, häufig mit seiner buddhistischen Gebetskette spielte und "a little meditation meanwhile" machte. Am Ende jeder Zeichensession mußte das Modell zwei-Minuten-Posen einnehmen, sodaß jeder Student nochmal fünfzehn oder sogar zwanzig Blätter vollkritzelte.
Und dann nahm er sich in der Regel nochmal rund zwei Stunden Zeit, um sich diese Schnell-Kritzeleien in aller Ruhe durchzugucken und zu kommentieren. Und bei diesem Analysieren der so rasch hingehuschten Blätter - da lernten wir alle eine Menge. Es war schon irgendwie skurril: Weil diese Schnellzeichnungs-Analysen so hilfreich waren, behielten wir für uns, wie gut dieser Aktzeichenunterricht war - damit nicht immer mehr Studenten dazukämen (Aktzeichnen war ja immer "freiwillig" und es gab Tage, da war ich mit dem Dozenten und dem Modell allein...), denn je mehr Teilnehmer, desto weniger Kommentare bekam man ja zu seinen eigenen Sachen.
Dieser Lehrer hat mir, so denke ich, eine Menge über das gute, das künstlerische Zeichnen beigebracht. Indem er mich (und die anderen) auf Qualitäten in den Zeichnungn aufmerksam machte, die ich darin überhaupt nicht gesehen hatte. Er war extrem motivierend. So lobte er z.B. jeden Studenten immer ersteinmal, und zwar auf eine Art und Weise daß man sagen mußt: Ja, er hat recht, das ist wirklich gut, auch wenn ich's bisher noch gar nicht so betrachtet hatte. In den ersten paar Sessions kam mir das fast etwas lächerlich vor, weil ich mir dachte: wer immer nur lobt - dessen Lob hat ja gar keinen Wert!
Aber das stimmte nicht, denn er lobte ja meistens nicht die ganze Zeichnung, sondern nur Details. Sein Loben war ein Aufmerksam-machen, nicht ein Beurteilen und zufrieden-auf-die-Schulter-klopfen. Und je länger ich ihn kennenlernte, desto klarer wurde mir auch, wo er nur auf die übliche Weise lobte um zu motivieren, und wo er wirklich etwas sah, das ihm ausnehmend gut gefiel. Und so ab dem sechsten oder siebten Mal, das man in seinem Unterricht war, fing er auch an zu kritisieren. Und die Kritik war im Tenor immer dieselbe: "Hier warst Du unkonzentriert/maniriert/lustlos." Wenn ein Schnörkel zum billigen Zierrat wurde, wenn ein räumlicher Zusammenhang aus Faulheit nicht beachtet worden war, wenn ein Strich unlebendig nur noch "seinen Job machte" - dann fiel ihm dies auf. Es war wirlich fast schon beängstigend, wie genau er sehen konnte, wo man geschludert hatte und wo man eventuell tatsächlich nicht besser gekonnt hatte.
Seine Message war unterm Strich: "Sei aufmerksam, sei konzentriert, gib dich nicht mit dem zufrieden, was du eh schon kannst. Mach es anders als vorher, aber mach es nicht nur anders, um's anders zu machen, sondern um es besser zu machen. Und laß dich nicht von Deinem Können so sehr beeindrucken, daß du dich wiederholst!
Und auch, wenn du während der langen Posen versuchst, dein Auge zu schulen und genau das wiederzugeben, was du siehst - bei den kurzen Posen geht es um was ganz Anderes, nämlich um Eindruck und Ausdruck. Und um die rüberzubringen, hast du vollkommene künstlerische Freiheit."
Um diese künstlerische Freiheit ging es mir bei der Kritik an Deinen Sketches, Eric. Wie genau die zu erreichen ist, kann man wohl kaum formulieren, und meistens muß man sie durch Negationen zu umschreiben versuchen. Freiheit bedeutet hier vor allem: Freisein von Determiniertheiten. Und unser Können, unser Wissen - sie können uns auch determinieren, nämlich wenn sie uns beherrschen, statt andersrum. Je mehr "skilly" jemand ist, desto größer die Gefahr, daß der Skill sich selbständig macht. Unser Können ist wie so ein kleines Starlet mit Diva-Allüren. Es will sich andauernd in den Vordergrund schieben, es ist vorwitzig und altklug: "Ich weiß, wie's geht!" Wir müssen da den alten, bedenkenträgerischen Regisseur spielen, der bei jeder noch so simplen Szene unzufrieden ist und immer wieder brummelt: "Neeneenee, das ist abgedroschen, das hatten wir schon, das langweilt mich, das ist Konfektionsware!"
Auf der Ebene wollte ich meine Kritik an Deinen Arbeiten verstanden wissen. Ich kann ja gar nicht so gut oder gar besser zeichnen als Du, insofern war auch The-Students Kommentar ein wenig deplaziert. Man muß ja nicht soweit sein wie jemand anders, nur um zu sagen, was einem auffällt.
Was nun Deine Intention angeht, so kenne ich sie jetzt schon ein bißchen besser als vorher, nachdem Du ein wenig dazu geschrieben hast. Und ich empfinde es so ähnlich wie z.B. bei Daniel, den ich ja auch immer mal wieder heftig kritisierte und der dann manchmal wahrscheinlich gar nicht wußte, was ich von ihm wollte... Ihr seid eben Illustrations-Profis und habt natürlich ein immenses Wissen und dadurch auch schon einige ästhetische Entscheidungen darüber, was gut und was schlecht sei, getroffen. Und wenn dann da einer kommt und von Euren Arbeiten etwas verlangt, daß von Euch gar nicht intendiert war, so kann das eventuell nerven.
Aber das ist ja die Aufgabe von Kritik: Zu nerven.
![Very Happy :D](./images/smilies/sm_biggrin.gif)
Aspekte anzusprechen, die dem jeweiligen Künstler selbst gar nicht eingefallen sind, die eventuell weit von seiner Intention entfernt lagen usw. Bei Euch Profis meckere ich deswegen auch kaum am Handwerklichen - das beherrscht Ihr eh zumindest so weit, daß ich Euch da nix Neues erzählen kann. Also konzentriere ich mich eher auf das "Künstlerische". Auch wenn das hier ja häufig eher mit einem Augenverdrehen konnotiert wird und manche vielleicht sogar behaupten, sie hätten gar keine großartigen "künstlerischen Ambitionen". Ich spüre solche Ambitionen aber bei Euch. :p
So, genug davon.
Beweisen, daß das grinsen bei der einen Zeichnung deplaciert war, kann man eh nicht, das ist immer eine subjektive Sache...
Okay, um noch etwas den langen Vortrag zu "illustrieren", hänge ich hier mal einen Rattenschwanz an solchen oben erwähnten 2-Minuten-Skizzen an. Die sind rund 10 Jahre alt und sind einfach wahllos aus einem der damals gefüllten Skizzenblöcke rausfotografiert.
Die letzten Vier sind aus einem anderen Block und sind 5-Minuten-Skizzen. Sie sind auch älter und zeigen, daß ich anfangs es nicht schaffte, den Sinn von Kurz-Posen zu begreifen.
![Bild](http://holgerkirste.de/Akt/18.jpg)