Interessante Diskussion hier!
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Ich kann nur empfehlen, Olegs Hinweis auf den Wiki-Artikel zu folgen. Denn tatsächlich kommen wir Heutigen mit unserer Auffassung von Komposition dem Geheimnis dieses Bildes kaum näher. Ohne die symbolhafte Bedeutung von Zahlen und Farben damals zu kennen, können wir die Bildkomposition nicht verstehen. Ohne ausreichendes Wissen um die inhaltlichen Bezüge können wir die Bildkomposition nicht verstehen. Denn Komposition bei einem gegenständlichen Bild heißt ja immer auch: inhaltliche Strukturierung. Wichtig in dem Artikel finde ich beispielsweise den Begriff
Bedeutungsperspektive: Das, was wichtig ist, wird "einfach" größer dargestellt.
Wichtig ist weiterhin die Kenntnis der typischen Bildformen. Wer noch nie etwas vom
hortus conclusus gehört hat, wer andere derartige Bilder nicht kennt - der wird nicht vergleichen können und z.B. kompositorische Abweichungen vom "Standard" überhaupt nicht bemerken. Ich frage mich z.B. (ohne es beantworten zu können), warum dieser Garten nur links und oben durch eine Mauer begrenzt ist.
Bei anderen Auffälligkeiten weiß ich nicht, ob sie eine Bedeutung haben oder nicht. So ist z.B. der Garten absolut "vollgemalt". Da herrscht der reinste horror vacui. Man beachte den (Frucht- ? ) Baum zwischen dem gefesselten Teufel/Affen und dem Jesuskind: der wird da reingequetscht, scheinbar ohne Rücksicht auf Verluste. Er darf keinesfalls das Gewand der Himmelskönigin Maria überschneiden, also endet er brav unter dessen Saum. Ist er also nur dazu da, die leere Fläche hier etwas zu füllen, wie der horror-vacui-Verdacht nahelegen würde? Oder haben wir hier vielleicht den Baum der Erkenntnis (laut Wiki ist dies ja eine Mischform zwischen hortuc conclusus und Paradie-Darstellung), der zwischen dem Teufel und Jesus, dem "zweiten Adam" steht? Vor dem Stamm dieses beschnittenen Bäumchens sehen wir einen weißen Schmetterling auf einer Blüte sitzen. Der Schmetterling war später zumindest ein Symbol für die Seele, die nach der Wiedergeburt aus der erdgebundenen verpuppten Raupe aufsteigt. Inhaltlicher Zusammenhang, oder nur aus der dekorativen Laune resultierender Zufall?
Wir Heutigen müssen unsere Vorstellung, man könne zwischen "rein Formalem" und "Inhaltlichem" trennen bei der Betrachtung einer Bildkomposition, Abstand nehmen. Sonst können wir die Komposition nicht verstehen. Wir müssen auch von unserem situativen Verständnis von Bildern Abstand nehmen. Wenn wir heute hier im Forum ein Bild malen, dann zeigt dieses Bild i.a.R. eine ganz bestimmte Situation. Das Storytelling wird dadurch sehr schwer, weil wir kein vorher und kein nachher zeigen können, sondern nur diesen einen Moment. Dadurch wird dieser Moment extrem wichtig, dieser Punkt in der Zeit. Um diesen Punkt
genau zu zeigen, werden Bilder so aufgebaut, daß der Blick des Betrachters auf den "point of interest" gelenkt wird. Unsere Bilder brauchen also einen Höhepunkt, eine Klimax, eine Pointe. Weiter ist es wichtig, daß in unseren Bildern eine Story erzählt wird, die spannend, und das heißt letztlich: neu ist. Dem Betrachter soll also eine Neuigkeit berichtet werden, er soll von einer Begebenheit erfahren, die er bislang noch nicht kannte.
Ganz anders ist das Verständnis von Bildern in der mittelalterlichen Kunst. Inhaltlich ist da nichts Neues in dem Bild, ganz im Gegenteil: Es lebt davon, daß die Betrachter wissen, worum es hier geht. Der Künstler kann somit dieses Wissen der Betrachter voraussetzen: Sie kennen die einzelnen Heiligen und deren Attribute, sie kennen die biblischen Details, sie kennen die Form des "hortus conclusus"-Motivs. Sie wissen auch, wozu Bilder da sind: sie dienen als Kontemplationshilfe! Das steckt in dem Begriff
Andachtsbild schon mit drin. Der Betrachter soll sich "versenken" in Gedanken über Gott, das Heilsgeschehen, das Wesen der Himmelsmutter etc.. Dazu bedarf es einer Komposition, die eben gerade
nicht auf eine einzelne Pointe hinstrebt. Weswegen die Kreisanordnug (die m.M.n. als erstes ins Auge springt) der Komposition hier viel besser funktioniert: der Blick wandert im Kreis, er wird nicht fortgerissen von einer visuellen Sensation, sondern er kann ruhig und andächtig im Kreise gehen wie der Mönch in seinem Klosterkreuzgang.
Es wird hier keine Story erzählt, sondern es wird höchstens erinnert an altbekannte Stories. Genauer gesagt wird an Bedeutungen und Tugenden erinnert: der Betrachter soll nicht unterhalten werden, sondern nur unterstützt in seinem Bemühen durch Kontemplation und Meditation (lat. meditatio = zur Mitte ausrichten! die Komposition lädt dazu ein, daß der Blick um die Bildmitte herum kreist) den Weg des Heils zu gehen.
Um was es sich bei diesem Bild - entgegen hier im Thread schon geäußerten Vermutungen - übrigens definitiv
nicht handelt, ist eine Illustration für "Bauern". Es wird hier keine Bibelgeschichte illustriert für Analphabeten. Das Bild richtet sich eindeutig an gebildete, wahrscheinlich höfische Kreise. Es wird ja eben gerade
keine Bibelgeschichte gezeigt, es wird keine Szene aus einem Heiligenleben o.ä. gezeigt. Kein Otto-Normal-Verbraucher des Mittelalters dürfte solch ein Bild verstanden haben.
Es genügt nicht, keine Meinung zu haben. Man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken.