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von digitaldecoy » 3. Apr 2009, 10:33
Was ich an Deiner Liste auf den ersten Blick schon Mal bemerkenswert finde ist, dass sie von der Reihenfolge her genau so angeordnet ist, wie ich persönlich es für sinnvoll halten würde, sich mit den Themen zu beschäftigen.
Hier muss ich jetzt etwas ausholen!
Die Lektüre von Heinrich Jacobys "Jenseits von Begabt und Ungegabt" (eine Empfehlung von Duracel - Dank noch Mal an dieser Stelle!) hat mir da in einigen Punkten die Augen geöffnet. Neben vielen anderen interessanten Aspekten, wird dort auch diskutiert, wie die Annäherung an eine neue Fähigkeit oder ein neues Themengebiet stattfinden sollte und wie unzweckmäßig dagegen unsere gängigen Lehr- und Lernmethoden meist angelegt sind.
Grundsätzlich gesagt, gibt es in jedes Themengebiet einen einfachen Einstieg, der auch sofort für Erfolgserlebnisse sorgt. Größtes Problem gängiger Lehrmethoden ist, dass dem Schüler zunächst ein komplexes theoretisches Wissen und eine Bandbreite praxisorientierter Übungen nahegelegt wird, bevor er überhaupt richtig anfangen kann. In Jacobys Buch wird konkret das Beispiel des Klavierlernens beschrieben, wo dem Schüler zunächst "brutal" die richtige Körperhaltung, das Notenlesen und das Nachspielen der Noten abgerungen wird. Die Lust am Experimentieren und Entdecken wird durch die Angst vor dem Falschmachen und dem Verletzen der Regeln ersetzt. In vielen Fällen, wird die Begeisterung für die Musik und das Musizieren unter dieser Drohkulisse zerdrückt.
Ich behaupte jetzt einfach Mal, dass es auf dem Gebiet des Malens und Zeichnens oft ebenso abläuft. Ich glaube, sowohl in der Musik als auch in der Malerei wird oft der Fehler gemacht, das Endergebnis (das vorgetragene Musikstück bzw. das fertige komplexe Artwork) zu fixieren und alles Lernen starr auf dieses Ziel auszurichten. Klar, wenn das Ziel ist, ein bestimmtes Musikstück vortragen zu können oder ein bestimmtes Bild malen zu können, dann muss dem Schüler schleunigst beigebracht werden, wie man Noten lesen und interpretieren und wie man die manigfaltigen Regeln des Malens und Zeichnens möglichst alle gleichzeitig anwenden kann. Aber dabei türmt man einen enormen Stoff auf, den man erst komplett beherrschen soll, bevor man überhaupt sein erstes "richtiges" Stück spielen oder sein erstes "vernünftiges" Bild malen kann und alles, was bis dahin entsteht, ist lediglich Ausschuss, der dem Unvermögen des Schülers zuzuschreiben ist.
Wie bitte soll man sich für ein Ziel motivieren, das in jahreweiter Ferne liegt, wenn auf dem Weg dorthin auch noch nur vorprogrammiertes Scheitern liegt? Womit ich jetzt nicht sagen will, dass jede Übung und jede Studie wirklich ein Scheitern bedeutet. Aber aus der Perspektive des Schülers, der vom Lehrer ein Idealbild vorgehalten bekommt und in dessen Übungen stets nur die Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, muss es so aussehen, als würde er ständig scheitern.
Neben der Lektüre des Buches, hat auch eine persönliche Erfahrung dazu beigetragen, die Dinge nun so zu erkennen, wie ich hier versuche, sie zu formulieren:
Mein 10 Jahre älterer Bruder hatte früher eine recht umfangreiche Anlage mit Keyboards und Computerprogrammen, um Musik aufzunehmen und zu arrangieren. Immer wenn er nicht da war, habe ich mich an die Keyboards gesetzt und habe darauf rumgespielt. Ich habe die verschiedenen Sample-Datenbanken durchgeschaltet und hatte einen riesen Spaß dabei, den verschiedenen Klängen zu lauschen. Mein Bruder konnte natürlich richtig spielen und das hat auch mich dazu verleitet, bei meinen Versuchen Melodien zu spielen und mehrere Tasten gleichzeitig zu drücken, um Akkorde und Harmonien zu erzeugen. Das klang natürlich anfangs schief und krumm aber mit der Zeit fand ich heraus, welche Tasten zusammen gut klingen und welche weniger gut. Den Höhepunkt erreichten meine musikalischen Entdeckungstouren, als ich entdeckte, dass das Computerprogramm von meinem Bruder Musikstücke gespeichert hatte und diese abspielen konnte. Der Clou dabei: In dem Programm wurden beim Abspielen der Melodie auf einer Klaviatur am Bildschirm jeweils angezeigt, welche Tasten gedrückt wurden (es wurden auch die Noten angezeigt, aber das brachte mir ja nichts, da ich sie nicht lesen konnte). Für ein bestimmtes Musikstück ("The Entertainer" - kennen manche bestimmt) habe ich mir so - Takt für Takt - die Positionen auf dem Keyboard rausgesucht und nach einigen Wochen des sporadischen Übens (immer wenn mein Bruder Mal nicht da war), konnte ich das Stück tatsächlich auswendig spielen, was bei meinen Eltern und allen Bekannten immer sehr gut ankam.
Der springende Punkt daran ist - und das sehe ich nach der Lektüre von Jacobys Buch jetzt erstmals klar vor Augen - dass ich damals völlig ohne Angst und ohne Druck etwas erarbeitet hatte, das vielen Kindern heute noch unter größtem Aufwand in zahllosen Klavierstunden abgepresst wird und am Ende oft im totalen Interessenverlust und der Ausflucht "ich bin auf dem Gebiet nicht begabt" endet. Wie viele "Unbegabte" müsste es heute vielleicht nicht geben, wenn man die Menschen einfach zweckmäßiger an die Dinge heranführen würde?
Und jetzt mal wieder zurück zum Thema Malen und Zeichnen:
Ebenso, wie ich damals auf einen barrierefreien und ganz natürlichen Einstieg in das Musizieren gestoßen bin, müsste man jetzt auch einen geeigneten Einstieg in das Malen finden. Und wie ich eingangs schon erwähnt habe, finde ich in der von BRANDISH aufgestellten Liste schon direkt die Reihenfolge, die ich mir für so einen leichten Einstieg auch vorstellen könnte.
Am Anfang steht die rein abstrakte Komposition. JEDER kann Farben auf einer Oberfläche verteilen und JEDER wird dabei seinen Spaß haben. So, wie ich früher auf den Keyboards einfach nur einzelne Klänge und Samples ausprobiert habe, könnte jeder einfach den Spaß erleben, der sich zwangsläufig einstellt, wenn man Farben arrangiert. Und hierbei müsste man sich auch keineswegs auf den reinen Spaß beschränken. Wichtige Konzepte wie die Balance zwischen Farbflächen, die Wirkung von Kontrasten und emotionale Farbwirkungen, könnten alle in dieser Phase erarbeitet und erfahren werden. Selbst in so einer frühen Phase, wo noch rein gar nichts erkennbar gegenständliches entsteht, könnte man schon wichtige Kenntnisse erlangen, die nicht wenige Artists selbst nach Jahren der Übung noch nicht begriffen haben.
Den abstrakten Formen dann langsam Bedeutung zu geben, Umrisse nach gegenständlichen Vorbildern zu entwerfen und den Effekt von Licht und Schatten zu entschlüsseln, könnte sich dann ganz von selbst ergeben. Das Abstrakte würde sich langsam in das Gegenständliche verwandeln. Formen würden sich zu Körpern wandeln und Helligkeitskontraste zu Lichteinflüssen. Und ganz von selbst käme dann auch das Interesse an den komplexeren Gesetzmäßigkeiten auf: Anatomie und Perspektive.
Zu jedem Zeitpunkt wäre eine neue Entdeckung eine Bereicherung für die eigene Arbeit und Zweifel und Versagensangst könnten sich gar nicht einstellen. Der Weg wäre eine endlose Entdeckungsreise, die Motivation würde stets von innen heraus kommen.
Dummerweise kennen wir das Ziel. Und wir sind ungeduldig.
Ich denke, das ist in diesem Fall wirklich der Knackpunkt. Hätte ich damals so unbefangen probieren können, wenn ich von Anfang an das Ziel gehabt hätte "The Entertainer" zu lernen? Kann ich mich, wenn ich die zahllosen Vorbilder vor Augen habe, auf meinen eigenen Weg besinnen? Kann ich der Verlockung der Tutorials widerstehen, die mir das Wissen versprechen, das ich benötige um mein Ziel zu erreichen? Kann ich zwischen den ganzen lauthalsen Einwänden und Kritiken noch die leise Stimme hören, die in mir ist und mir sagt, was ich wirklich will? Was mir wirklich Freude macht!
Der Zeitpunkt ist gerade günstig: ich bereite einen 10 Jahresrückblick auf meine eigene Entwicklung für meine neue Webseite vor und ich merke immer mehr, wie ich in dieser Zeit von Einflüssen durchgeschüttelt wurde und zweifelhaften Zielen zugetrebt bin. Noch vor wenigen Jahren hätte so eine Lernliste auch von mir stammen können, heute sehe ich sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ich habe auch kein Rezept dafür, wie man vorgehen sollte. Ich kann nur dazu raten, mehr auf die innere Stimme zu hören und sich vielleicht Mal zurückzuerinnern an Fälle, wo einem etwas ohne große Mühe und aus eigenem Antrieb gelungen ist und sich dann zu fragen, wie man sich diese Qualität für die eigene Weiterentwicklung zurückerlangen könnte.
Und vielleicht einfach auch Mal das Ziel vergessen.