Abstraktion und Komplexität

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MartinH.
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Abstraktion und Komplexität

Beitrag von MartinH. » 18. Dez 2011, 15:07

TL;DR: Dafür ist das Problem zu komplex, ich kanns nicht zusammenfassen.

Ich stoße in letzter Zeit immer wieder darauf, dass ich in bestimmten kreativen Prozessen auf Grenzen treffe, die mir Schwierigkeiten beim Überwinden bereiten. Als ich heute Morgen noch im Bett lag hab ich eine Weile darüber nachgegrübelt und mich entschlossen mal einen Thread dazu aufzumachen, in der Hoffnung das er für irgendwen interessant oder gar nützlich ist. Das größte Problem meiner Frage ist wie bei so vielen Fragen, dass ich nichtmal genau formulieren kann was die Frage eigentlich ist. Man könnte sagen, ich habe ein sehr konkretes Problem und tue mich schwer damit es zu abstrahieren. Konkret betrifft mein Problem Schaffensprozesse in verschiedenen Disziplinen. Ich programmiere, ich komponiere Musik und ich male Bilder, und bei allem hab ich früher oder später das Gefühl nicht weiter zu kommen mit einem Problem und ich sehe da interessanet Parallelen.

Es soll in diesem Thread also um Abstraktion und Komplexität gehen, sowie um Strategien die den Zustand eines Systems zwischen abstrakt und komplex/konkret verschieben. Meine erste Beobachtung dazu ist, dass diese Prozesse in unterschiedliche Richtungen laufen können und unterschiedlich viele mögliche Zielzustände haben können.

Beispiele:

Abstrakte Malerei
Skizze -> fertiges Bild
abstrakt -> komplex

Hier wird etwas einfaches komplexer gemacht, aber nicht zwingen konkretisiert im inhaltlichen Sinne. Vielmehr fällt es schwer bei einer vielzahl möglicher Lösungen genau zu sagen welche denn "die richtige" ist. Das ist vielleicht auch der Grund, warum viele diese Art von Problem/Lösung nicht sehr hoch wertschätzen.


Gegenständliche Studie
Modell -> Skizze -> Bild
komplexer Ausgangszustand (Modell) -> abstrahierte Skizze mit großer Beliebigkeit (wird eh übermalt) -> komplexer und sehr konkreter Zielzustand

Hier wäre theoretisch nichtmal eine Abstraktionsleistung notwendig, man könnte auch links oben Anfangen und das Bild wie ein Plotter runtermalen. So oder so bleibt die Anforderung an den Abstraktionsprozess geringer, je näher das Ergebnis wieder am Ausgangszustand ankommen soll.


Aktskizze
Modell -> fertige Skizze
konkret -> abstrakt

Hier haben wir einen konkreten Ausgangszustand und einen abstrahierten Zielzustand. Die Abstraktionsleistung ist hierbei schon ziemlich schwer, denn es kann theoretisch zwar eine unendliche Zahl an Lösungen geben, doch es gibt immernoch sehr viele Faktoren die man benutzen kann um 2 Bilder qualitativ zu vergleichen. Und es gibt in der Vorlage wenig Information die einen konkret auf die Lösung führen würde bzw. die Informationen sind schwer zu lesen, wie mans nimmt...


generisches Speedpainting
Skizze -> fertiges Bild
unkonkret -> konkreter

Hier läuft der Abstraktionsprozess mehr oder weniger rückwärts. Entweder es besteht im Kopf ein konkretes Bild das dann beim Malen den Prozess durchläuft konkret ausformuliert zu werden (oder abstrahiert, wenn die vorstellung detaillierter ist als das fertige Bild), oder es besteht kein Bild im Kopf und aus abstrakten Formen wird in einem suchenden Prozess eine der möglichen konkreteren Lösungen ausgewählt. Das Maß an Komplexität im Bild lässt sich leicht steigern, indem man zufällig gewählte Elemente und Strukturen einbaut (so hab ich fast immer Speedpaintings gemalt).


"gekonntes" Speedpainting
Skizze -> fertiges Bild
konkreter -> sehr konkret

Wenn man sich mal Speedpaintings von z.B. Mullins ansieht, dann stellt man fest, das sie auch in den frühen Phasen oft schon verkleinert aussehen wie ein aufwändiges fertiges Bild. Hier werden Dinge früher konkret entschieden und der Grad der komplexität des Systems ist zu jedem Zeitpunkt höher als wenn z.B. ein Anfänger ein Speedpainting malt. Anfänger Bilder haben öfters ja nichtmal einen Hintergrund, geschweige denn ein kompositorisches Konzept.
Hypothetisch formuliert erlaubt der zahllos wiederholte Prozess der Abstraktion (Studie: konkret -> abstrakt) beim rückwärts geführten Abstraktionsprozess, nämlich dem konkretisieren, ein durchweg höheres Maß an Komplexität im System zu kontrollieren (nicht nur zu erzeugen, sondern auch bewusst einzusetzen).




Jetzt haben wir Beispiele aus der Malerei für beide Richtungen des Prozesses, jetzt wechseln wir zur Musik:


"lärm" komponieren
zufällige Geräusche -> ausgewählte Geräusche

Hier muss nicht wirklich abstrahiert werden, solange nicht der Anspruch besteht etwas gewisses zu transportieren.


Punkrock/Grindcore/Blackmetal komponieren (jeweils in ihren simplen Ausprägungen)
abstrakte Idee oder intuitiv gewählte Elemente -> fertiges "System" mit einfacher Struktur und einfachen Elementen

Hier wirds schon konkreter, doch die Komplexität der Aufgabe das gewünschte Ergebnis zu erzielen ist noch überschaubar, da alle 3 Musikstile ziemlich "in your face" sind und auch die thematisierten Inhalten zumeist simpler sind.


komplexere progressive Musik komponieren (Deathmetal/Jazz/Progressive-irgendwas)
"Chaos" -> geordnetes "Chaos"

Hier ist der Zielzustand wesentlich komplexer und einzelne Elemente gehen stärker außeinander. Rythmen verschieben sich gegeneinader und Instrumente spielen seltener Unison. Als Ausgangszustand kann vieles dienen: mathematische System, harmonische Systeme wie Skalen und Akkorde oder Zufall/Intuiton. Je nach Genre gibt es im Zielzustand auch noch relativ wenige "zwingende" Regeln weil so viel erlaubt ist. Die Schwierigkeit im Schaffensprozess besteht (u.a. und imho) im beherrschen der Komplexität und konkretisieren zwischen zahllosen Möglichkeiten. Sowas fällt mir z.B. extrem schwer (will heißen ich kanns nicht).


orchestrale bombast Musik komponieren (Soundtrack, Trailermusik, ich meine NICHT Klassik weil ich mich damit nicht auskenne)
abstrakte Idee -> konkrete Umsetzung

Hier besteht oft in der Ausgangsitation schon eine klare Intention zu einem Gefühl, das man erzeugen will. Z.B. wenn man einen Film vertont werden bestimmte Abschnitte und Stimmungen suggeriert, die man dann ausformuliert auf mehr oder weniger komplexe weise. Der Grad der Komplexität schwankt stark. Manche Sachen die krass und episch klingen sind kompositorisch in Wirklichkeit sehr simpel (sowas gelingt auch mir dann manchmal:D) und manche sind wiederum sehr komplex, vor allem wenn man sich aus dem Regelgerüst der konsonanten Harmonien herauswagt und die Regeln bricht: Disharmonie, Polyrythmen usw.. Hier komm ich immer ganz schnell nicht weiter, weil ich keine Strategie habe um den rückwärts gedachten Abstraktionsprozess auszuführen. Ich kann nicht von grob nach fein arbeiten, weil ich schon nichtmal verstehe wie man fein nach grob abstrahieren könnte. Die Dissonanz und Spannung entsteht ja meist erst aus der Komplexität.




Nochmal Themenwechsel, jetzt zum Programmieren

Abstraktion und das verbergen von Komplexität sind in der Informatik extrem wichtige Grundsätze. Je komplexer die Lösung einer Aufgabe, um so wahrscheinlicher ist es eine schlechte Lösung. Ziel ist den zur gleichen Zeit überblickbaren Bereich zu jeder Zeit möglichst klein zu halten. Beim programmieren in einer Sprache wie C befindet man sich ja schon auf einer Abstraktion der Abstraktion. Ohne Abstraktion würde man binäre oder hexadezimale Zahlen schreiben, die nächst höhere Stufe ist Assembler Code den auch noch kein normalsterblicher lesen kann und dann erst kommen die Sprachen wie C. Innerhalb der Sprachen verwendet man dann wiederum Schnittstellen die komplexe Prozesse abstrahieren und nach außen hin einfacher Nutzbar machen. Wenn ich eine standard Applikation schreiben würde, würde ich nicht erst einen Button erfinden müssen, den Button gibt es schon in einem von vielen Grundgerüsten das man benutzen kann.
Bei der Entwicklung eines Programmes explodiert die komplexität des zu überblickenden Systems dennoch rasend schnell, sonst gäb es nicht so viel verbuggte Software.
Das Problem sehe ich dabei in der meist geringen Zahl der möglichen Lösungen (je komplizierter das Problem, je weniger funktionierende Lösungen gibt es (bzw. umgekehrt)) und der Richtung des Prozesses. Ich gehe von etwas abstraktem aus, das ich erreichen will, z.B. ein Kommando-Zeilen Programm das einen Parameter nimmt und dann ausgibt ob der Parameter ein gültiges Datum ist oder nicht um mal ein relativ simples Beispiel zu nehmen. Da ist nicht die Abstraktion des Problems das Problem, sondern die Konkretisierung. Hier muss erstmal erkannt werden, dass es einen Eingabeparameter gibt, dann muss erkannt werden ob es ein Datum ist (gesondert zu betrachtendes Problem, sowas ist auch immer einfacher als vernetzte Probleme) und dann nur noch die Antwort ausgegeben werden.
In der Praxis von z.B. Spieleprogrammierung ist so etwas simples, dass man in einzelne Elemente und einen klaren Ablauf gliedern kann aber eher selten.
In meinem iPhone Spiel z.B. tue ich mich gerade schwer damit Achivements einzubauen. Da muss erstmal ein online User Account für Gamecenter authentifiziert sein, wenn er das nicht ist, muss alles zwischengespeichert werden, damit man was speichern kann muss man erstmal wissen welche Achivements erreicht werden, das sollte idealerweise an einer zentralen Stelle passieren, die wiederum muss aber informationen von verschiedenen Teilen des Programms bekommen (welche Mission erreicht, wie lang gespielt, wie oft neu gestartet, wie viele Abschüsse, und und und....). Hier seh ich keine klare Richtung, das Problem sitzt fieß vernetzt in mitten anderer Probleme und ich komm nicht weiter, weil ich nicht schaffe eine Abstraktion zu finden die simpel genug ist, dass ich sie als Ganzes betrachten kann. Bzw. das wäre vielleicht nichtmal das Problem, wenn ich denn das Problem umfassend überblicken könnte.
Ich hab Gestern an etwas anderem gearbeitet und angefangen einem bestehenden Partikelsystem aus einer Grafikengine die Funktion hinzuzufügen das einzelne Partikel frame Animationen durchlaufen. Das Problem war auf unterster Ebene, der konkreten Implementierung in den Funktionen viel komplizierter, aber auf hoher Ebene viel einfacher, weil ich nur an wenigen Stellen überhaupt was ändern musste und die Richtung des Informationsflusses simpel war.

Um da jetzt einen Vergleich zum Malen zu ziehen würde ich sagen das Achivement Problem ist ein kompositorisches Problem (Beziehung von vielen Elementen zu vielen anderen Elementen) und das Partikel Animations Problem ist ein Problem der Perspektive eines komplexen Gegenstandes (einfache Beziehung aber trotzdem knackig zu lösen). Und hier schließt sich wieder der Kreis, denn kompositorische Probleme (obgleich spannend) finde ich in den ersten Phasen der Bildentstehung oft unheimlich frustrierend. Vor allem dann, wenn die Aufgabe die Zahl der möglichen Lösungen schon stark einschränkt (z.B. gewünschter Bildinhalt einer Auftragsillustration bzw. in einem Programm wär es die konkrete gewünschte Funktion des Programmteils). Ich hab nicht selten das Problem in den ersten Phasen eines Bildes ziellos rumzuprobieren und mit allem unzufrieden zu sein, oder wenn mir ein Teil gefällt, passt er nicht zum Rest, oder ich seh zu lange nicht was nicht funktioniert und mir fällt es erst viel zu spät auf. Beim komponieren wäre die Entsprechung, dass ich relativ leicht einzelne Teile komponieren kann, die mir gefallen, aber nie etwas längeres, das ein sinnvolles Ganzes bildet. Und beim Programmieren verliere ich mich entsprechend eher in spannenden Teilproblemen die nicht komplex ins Ganze eingebettet sind, oder bin planlos und baue Dinge irgendwie in die Gesamtstruktur ein, und muss sie dann irgendwann neu schreiben, weil die suboptimale Vernetzung die Komplexität der gesamten gleichzeitig zu betrachtenden Ebene des Systems zu weit nach oben geschraubt hat, und ich auf der Ebene entweder nichts neues machen kann oder zu viele Fehler erzeuge, weil ich den Überblick verliere.

Diese Momente, wo ich das Gefühl habe die Komplexität übersteigt das was ich fassen kann, fucken mich immer total ab. Das ist so frustrierend weil man auf einmal nur noch Bahnhof versteht oder merkt das alles was man macht nicht funktioniert. Der TL;DR zu diesem Post ist einerseits wörtlich korrekt, fasst andererseits aber sehr treffend das Problem zusammen.
Die Frage ist jetzt zu welchen Schlussfolgerungen man nun kommt. Die Antwort der Informatik wäre (gemäß dem Buch "code complete" und einem Blogpost den ich neulich gelesen habe) solange die Betrachtungsebene zu komplex ist, ist die Abstraktion und Kapselung nicht gut gelöst. Es gilt nach Möglichkeit immer die Komplexität des Problems zu senken, nicht die Komplexität des Denkens zu erhöhen.
Doch wie sieht es in der Malerei aus? Und wie beim komponieren von Musik? So viele Ähnlichkeiten es auch gibt, die Möglichkeiten und Richtungen der Abstraktion haben zwischen den Medien - ja sogar innerhalb einzelner Medien - doch oft unterschiedliche Ausprägungen.
Und jetzt bin ich gespannt was eure Gedanken zu dem Thema sind.

kaktuswasser
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Beitrag von kaktuswasser » 18. Dez 2011, 22:24

TL;DR: Ich diskutiere kurz den Komplexitätsbegriff in der
Physik/Informationstheorie und probiere die Analogie zur
Malerei zu ziehen. Dabei geht es mir vorallem darum die Begriffe
der »Komplexität« und »Abstrahierung« präziser zu fassen damit
wir etwas genauer diskutieren können. Ich komme zu dem Schluss,
dass oft in der Malerei das Problem nicht unbedingt eine zu hohe Komplexität
sondern eine zu niedrige ist.



Mal wieder ein interessanter theoretischer Thread. Mir kommt es
vor, als würdest Du Abstraktion und Komplexität als gegensätzliche
Dinge ansehen. Das sehe ich nicht direkt so. Ich möchte aber
erstmal einmal so tun als ob ich deinen Post nicht so genau
gelesen hätte und etwas weiter ausholen um am Ende auf das Problem
in der Malerei zurückzukommen.


Genauer genommen möchte ich erst etwas zu dem Thema aus der
Perspektive eines Physikers, der sich mit komplexen Systemen
beschäftigt, schreiben. Warum gerade aus dieser Perspektive?
Nun zunächst weil sich die Physik sehr (!) viel mit dem Problem der
Komplexität beschäftigt. Zum anderen, weil es die Perspektive ist
mit der ich mich am besten auskenne. Denn wie ihr wisst mal ich
schon länger nicht mehr viel. Stattdessen beschäftige ich mich
mit Physik.
Der dritte Grund ist der, dass Komplexität in der Physik viel
mit Komplexität in der Informatik zu tun hat, die Du ja schon
angesprochen hast.

Was versteht ein Physiker unter »Komplexität«?

In der Physik ist man oft in einer etwas sonderbaren
Situation. Angenommen man hat ein System von 10 Millionen Teilchen
gegeben (man stelle sich z.B. eine Box mit kleinen Kügelchen vor die
durch die Gegend fliegen. Ab und zu stoßen sie gegeneinander,
prallen von einander ab und fliegen dann weiter).
Die mikroskopischen Gesetze, die das »Verhalten« der
Teilchen beschreiben, kennne wir in einer ungeheuren
Genauigkeit. Das bedeutet, dass wir genau ausrechnen
was passiert, wenn sich zwei Teilchen mit einer bestimmen
Geschwindigkeit näheren, interagieren und dann weiterfliegen. Das
bedeutet wir können ganz konkret die genauen Gleichungen
hinschreiben, die das Verhalten unserer 10 Millionen Teilchen in
der Box haargenau beschreiben.

Als Laie wird man also denken, nun, dann lässt sich ja genau
vorhersagen, was mit dem 3897. Teilchen nach 100s passiert ist.
Weit gefehlt! Warum? Ganz einfach, es ist vollkommen unmöglich die
Gleichungen zu lösen, also z.B. die Bahnkurve des Teilchens
auszurechnen.
Selbst mit dem größten Supercomputer der Welt ist dies zumindest höchstens für sehr
kleine Zeiten möglich. Und woran liegt das?
Die Informationsmenge die hier verarbeitet werden muss ist
schlicht zu groß, da sie exponentiell mit der Teilchenanzahl
steigt. Man kann das System also vielleicht für, sagen wir, 100
Teilchen für einige Sekunden simulieren, aber der Rechenaufwand
steigt so schnell mit der Anzahl der Teilchen, dass dies sehr
schnell nicht mehr möglich ist. Selbst den aktuellen Zustand des
Systems zu speichern ist dann schnell nicht mehr möglich.


Also: Wir haben hier ein sehr einfaches System vor uns, in dem
Sinne, dass wir genau wissen wie sich die einzelnen Bestandteile aus
denen das System besteht im Allgemeinen verhalten. Gleichzeitig ist es aber
extrem »komplex«, da der Rechenaufwand um irgendeine messbare Größe
auszurechnen extrem schnell mit der Anzahl der Teilchen steigt.



Wie gehen Physiker nun mit dem Problem um: Als erstes stellt man
fest, dass eigentlich komplett uninteressant ist, was mit einem
konkreten Teilchen passiert. Wir können dies in der Praxis sowieso
nicht verfolgen und was wir eigentlich wissen wollen ist ob wann
Behälter explodiert, wenn wir ihn zu stark erhitzen oder wieviel
Strom durch den Draht fließt, wenn wir eine bestimmte Spannung
anlegen. Das heißt, uns interessiert z.B. eigentlich wie der Druck
des Gases aus den Teilchen von der Temperatur abhängt.
Aber von dem Druck und der Temperatur des Gases als Ganzes weiß das einzelne Teilchen
gar nichts! Es fliegt ja nur durch die Gegend und stößt sich ab
und zu mit einem anderen. Das heißt, dass ein Phänomen wie Druck
erst durch das kollektive Verhalten der Gesamtheit aller Teilchen zustande kommt.
Dies ist ein weiteres Kennzeichen eines »komplexen« System: Es gibt Effekte
die am Verhalten der einzelne Bestandteile nicht (direkt)
abzulesen sind, wir nennen solche Effekte meist »makroskopische«
oder »emergente« Effekte.

Ich möchte hier nicht genau darauf eingehen wie man es nun
hinbekommt von der mikroskopischen Theorie zu einer
makroskopischen Theorie überzugehen.
Aber es stellt sich dann heraus, dass wenn man einmal den Übergang vom
mikroskopischen Verhalten der einzelnen Bestandteile (Position und
Geschwindigkeit der Teilchen) zur
effektiven Beschreibung durch makroskopische Größen (hier Druck, Temperatur,
Volumen des Behälters) gemacht hat, das Problem leicht zu lösen
ist! Die Theorie die dann heraus bekommt nennt man »Thermodynamik«
und ihr Erfolg ist durch die Existenz von Kühlschränken, Autos,
Flugzeugen, Herdplatten offensichtlich.

Warum ist dies möglich? Es liegt daran, dass man durch den
Übergang von einer mikroskopischen Theorie zu einer
makroskopischen die Informationsmenge die man verarbeiten muss
extrem (!!) verringert hat. Man glaubt leicht, dass es wesentlich
einfacher ist den Druck, die Temperatur und das Volumen eines
Gases zu speichern als die Position und Geschwindigkeit aller
Milliarden Teilchen.
Man hat also die Komplexität des Problems deutlich verringert in
dem man bewusst überlegt hat, welche Größen wirklich von Interesse
ist und welche Information eigentlich überflüssig ist.
Anders ausgedrückt: Man geht von einer sehr konkreten Beschreibung
zu einer abstrahierten Beschreibung über und senkt dadurch die
»Komplexität« der Beschreibung des Problems.

Die Moral der ganzen Sache ist zweierlie:
Zum einen gibt es eine Anschauung dafür was »Komplexität«
bedeutet: Die »Komplexität« ist ein Maß dafür wieviel
Informationen bzw. wie viel Rechenaufwand notwendig ist um
eine bestimmte Aussage treffen zu können. In der
Komplexitätstheorie in der Informatik definiert man hier die
»Kolmogorov-Komplexität« einer Zeichenkette: Sie ist die Länge des
kürzesten Programms welches die Zeichenkette ausgibt. (Natürlich
in einer festgelegten Sprache). Danach ist zum Beispiel die
Zeichnkette

ABABABABABABABABABABABABABA

sehr viel weniger komplex als

QWDIOJQWDNQWDIIOJQWDNJQWDQW.

Insbesondere wird aber auch klar, dass ein Problem sehr schwierig
und sehr einfach sein kann, abhängig davon auf welcher Ebene man
es betrachtet. Oder: Die Komplexität eines Problems
hängt stark von der Betrachtungsebene ab.

Zweitens konkretisiert es was es bedeutet zu »abstrahieren«: Man
geht von vielen Informationen zu wenig Informationen über. Das
heißt, Abstraktion hat nur eine »Richtung«.

Drittens gibt es eine Art Handlungsanweisung um mit Komplexität
umzugehen: Man überlege sich zunächst, was wirklich wichtig
ist. Dann geht man vom konkreten Problem zum abstrahierten oder effektiven Problem
über. (Vgl. hier zu deinen Aussagen in Bezug auf das
Programmieren).



Nun zum Zusammenhang zur Malerei.

In der obigen Diskussion war Komplexität ein Maß für Information
bzw. Rechenaufwand. Aber was ist dann die Komplexität eines
Bilders? Man kann einfach die direkte Analogie zu den Zeichnketten
bilden. Veranschaulicht sieht das dann so aus:
Bild

Ich denke aber, das eigentliche Problem bei der Malerei liegt
woanders. Denn bei der Malerei gibt es zwei entgegengesetzte
Problemstellungen, die allerdings teilweise gleichzeitig
vorkommen.
Die beiden Problemstellungen lassen sich an zwei typischen
Aufgaben darstellen:
1. Ein Portrait oder eine Landschaftsmalerei nach Vorlage (Photo
oder Modell):
Hier ist ähnliche wie oben die gegebene Komplexität hoch
und man muss herausfinden, was tatsächlich wichtig ist, also
abstrahieren, da in der Vorlage sehr viele Details gegeben sind.
2. Eine Werbeillustration:
Hier werden sehr wenig Informationen gegeben ("Ein Affe springt
von einem Hochhaus") und man muss die Komplexität erhöhen und
nicht verringern um ein ansprechendes Ergebnis zu bekommen.

Dazwischen gibt es natürlich noch alle möglichen Übergänge die
besonders schwer zu handhaben sind.

Für den 1. Fall liefert die oben beschriebene Analogie auch die
entsprechende Handlungsanweisung. Bei der zweiten stößt man auf
das Problem, dass es sehr viel mehr Möglichkeiten gibt die
Komplexität zu erhöhen als zu verringern, genauso wie es mehr
Möglichkeiten gibt einer Box mit 10 Gegenständen einen neuen
hinzuzufügen (beliebig viele), als es Möglichkeiten gibt aus dieser Box einen
herauszuziehen (10).

Gleichzeitig hat man aber natürlich auch den Vorteil, dass das was
wirklich wichtig ist schon präzise definiert ist. Schafft man es
die Punkte sehr gut zu lösen ist es fast egal was man mit dem Rest
macht. Wenn Mullins ein Speedpainting malt legt er den absoluten
Fokus auf die wichtigen Punkte, deswegen auch die Aussage "think
more, paint less". Costumbrushes und Texturen fügen dem Bild dann
nurnoch die Komplexität (im Sinne des Bildes oben) hinzu die man von einem
"realistischen" Bild erwartet, aber ansich ziemlich irrelevant
ist.


Ein weiteres Problem in der Malerei ist natürlich, dass man es
(zumindest bei Illustrationen o.ä.) nicht
nur mit der bisher diskutierten »formalen« Komplexität zu tun hat
sondern auch über inhaltliche Komplexität nachdenken muss. Da ich
aber schon viel zu viel geschrieben habe, wede ich dazu erstmal
nichts schreiben

Bleibt immernoch die Frage welche praktischen Handlungsanweisungen
man hieraus ziehen kann. Aber die reiche ich auch erstmal weiter ;)

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schlummi
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Beitrag von schlummi » 19. Dez 2011, 01:17

ich habe gerade das wirklich durchgelesen. :D
und bin mir immer noch nicht sicher, ob ich die fragestellung richtig verstanden habe. so oder so, ich finde's sehr interessant und riesendank an kaktuswasser! :)

die richtige lösung scheint mir die entscheidung zu sein, welche eigenschaften von dem box mit 100 teilchen für uns (bzw. für gewünschte ergebnisse) relevant wären. wenn's nur geometrisch verformt werden soll, ist doch egal, welche elektrische spannung damit erzeugt werden könnte. klingt zugegebenermassen nicht so einfach wie 42. :D

MartinH.
In meinem iPhone Spiel z.B. tue ich mich gerade schwer damit Achivements einzubauen. Da muss erstmal ein online User Account für Gamecenter authentifiziert sein, wenn er das nicht ist, muss alles zwischengespeichert werden, damit man was speichern kann muss man erstmal wissen welche Achivements erreicht werden, das sollte idealerweise an einer zentralen Stelle passieren, die wiederum muss aber informationen von verschiedenen Teilen des Programms bekommen (welche Mission erreicht, wie lang gespielt, wie oft neu gestartet, wie viele Abschüsse, und und und....).
praxisbezogen würde ich erstmal entscheiden melche parameter WIRKLICH wichtig sind. dann würde ich die während des spiels loggen (temporär) und nur am ende gesammelte daten nem account zuweisen (oder eben verwerfen). scheint mir nicht wirklich komplex zu sein... stehe ich aufm schlauch was das problem angeht? :?

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Beitrag von Duracel » 19. Dez 2011, 18:29

Ich habs mir natürlich auch durchgelesen.
und finde solche Fragestellungen auch immer super interessant.

Da ich eine komplexe Antwort jetzt nicht geben kann(aus Zeitgründen) möchte ich die abstrahierte Lösung anbieten: intuitives Vorgehen.
Ziel ist, woran kein Weg vorbeiführt.

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Beitrag von MartinH. » 19. Dez 2011, 22:00

Toller Beitrag Kaktuswasser, Danke! Ich hatte schon Angst es meldet sich gar keiner ^^.
Schön das du nochmal eine ganz neue Perspektive auf das Thema einbringst.
Bevor ich wieder dazu komme ausführlicher zu antworten warte ich auch nochmal ein wenig ab was sonst noch so kommt. Vielleicht finden z.B. Daniel und Dura auch noch Zeit ein paar Worte zu schreiben.

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Beitrag von ThomasVeil » 20. Dez 2011, 02:52

Ich hab fast alles gelesen, aber vestehe immer noch nicht ganz worum es geht... wahrscheinlich weil da tatsaechlich keine direkte Frage steht.

Abstraktion ist fuer mich die Vereinfachung von Dingen. Da eine Vereinfachung eine Veraenderung ist, ist das Resultat nicht mehr wie die Realitaet. Die echte Welt ist nicht-reduzierbar-komplex (siehe Steven Wolfram).
Folglich: Je mehr man vereinfacht, desto relitaetsferner wird was man macht. Abstrakte Kunst geht dann soweit das man nicht mehr weiss worum es ueberhaupt geht.

Als Mensch (oder als Programmierer ;)) muss man reduzieren - da die Welt zu komplex ist um sie umfassend zu verstehen. Und dann geht es eigentlich nur noch um die Balance: Wie weit soll man gehen um Dinge handhabbar und begreifbar zu halten - waehrend sie aber immernoch in einer realistischen Umgebung funktionieren.
webseite: http://www.oxpal.com - mein patreon projekt: https://www.patreon.com/oxpal

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Beitrag von kaktuswasser » 20. Dez 2011, 11:42

Duracel hat geschrieben:(...) möchte ich die abstrahierte Lösung anbieten: intuitives Vorgehen.
:thumb:

Bin gespannt was ihr noch dazu schreibt :)

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Beitrag von Duracel » 20. Dez 2011, 18:37

Ich schreibe hier seit gut anderthalb Stunden und es tauchen immer neue Definitionsschwierigkeiten auf.
Die ist hier mMn ein großes Problem, bzw. eine Klärung würde vieles Erleichtern, wenn nicht gar lösen.
Ich bin selbst von Annahmen ausgegangen, die sich als irreführend herausgestellt haben und bin einigen Wörtern daher auf den Grund gegangen.
(nein, Wikipedia reicht dafür nicht aus! Ihr könnt mir in den Wortbedeutungen vertrauen; auf Wunsch kann ich alles aber auch gerne mit den lateinischen Ursprüngen untermauern)
In den meisten Fällen ist es auch durchaus deckungsgleich mit eurer Anwendung.

Kern-Bedeutungen:
komplex = "zusammengeflochten" (gegenteil: entbinden; entwickeln)
konkret = "zusammengewachsen" (gegenteil: erwachsen; sich aufteilen, separieren)
reduziert = "zurückgeführt" (vgl.: zurückgesetzte Preise); reduzieren bedeutet soviel wie "näher an den Ursprung zurück".
abstrakt = "fortgeschleppt/abgezogen"; Wichtig ist hierbei, dass das Abstrakte, das Weggenommene ist und nicht das, wovon weggenommen wurde!

Wir sehen hier, dass konkret und komplex sehr ähnlich in ihrer Bedeutung sind.
D.h. der Unterschied liegt vorallem im aktiven(konkret) zum passiven(komplex)


Verwendet man nun konkret als synonym für gegenständlich, dann im Sinne von "Gegenstand=das Zusammengewachsene"- und damit das "als Ganzes greifbare".
Abstrakte Kunst mit ungegenständlicher Kunst in einen Topf zu werfen(was vielerorts so gehandhabt wird) funktioniert daher nur bedingt.
Auch abstrahieren mit vereinfachen gleichzusetzen ist somit irreführend(das hätte ich so intuitiv gemacht)
Ich würde als Erklärung für Abstraktion folgendes anbieten: von einem konkreten/komplexen Etwas wird die Essenz entnommen. Ich ziehe also (im Idealfall)das Beste heraus.
Vereinfachen dagegen heißt, ich erleichtere Schritt für Schritt von Ballast.
Vereinfachen und abstrahieren führt also idR. zum selben Endergebnis, aber auf unterschiedlichem Wege.
Die Komplexität verringern ist das Aufdröseln in die Einzelbestandteile. Z.b. das seperate Betrachten von LichtundSchatten, Eigenfarbe; etc.pp.
Unkonkret dagegen bedeutet, die Teile fügen sich (noch) nicht zu einem Ganzen.


Ich denke das ist als Grundlage einiges Wert.
Ich werde jetzt im foglenden die Beispiele von Martin dahingehend untersuchen(beibehalten oder korrigieren)

[Abstrakte Malerei]
[Skizze -> fertiges Bild]
[abstrakt -> komplex]
Ich würde sagen, das fertige Bild ist vielmehr abstrakt, während Skizze noch komplex ist.

[Gegenständliche Studie]
[Modell -> Skizze -> Bild]
[komplexer Ausgangszustand (Modell) -> abstrahierte Skizze mit großer Beliebigkeit (wird eh übermalt) -> komplexer und sehr konkreter Zielzustand]
konkreter Ausgangszustand (Modell) -> abstrahierte Skizze -> komplexer in der Ausarbeitung(Verflechtung von immermehr abstrahierten Einzelsträngen - Ziel möglichst nah am konkreten Modell).

[Aktskizze]
[Modell -> fertige Skizze]
[konkret -> abstrakt]
genau [betrifft die ideale Aktskizze - häufig(gerade bei Anfängern) ist es aber auch nur eine Vereinfachung]

[generisches Speedpainting]
[Skizze -> fertiges Bild]
[unkonkret -> konkreter]
genau, wobei das fertige Bild komplex ist im Sinne des Malprozesses, konkret im Sinne des Betrachtens.

["gekonntes" Speedpainting]
[Skizze -> fertiges Bild]
[konkreter -> sehr konkret]
Anm. siehe generisches Speedpainting


Musik:
["Lärm" komponieren]
[zufällige Geräusche -> ausgewählte Geräusche]
konkret -> abstrakt

[komplexere progressive Musik komponieren (Deathmetal/Jazz/Progressive-irgendwas)]
["Chaos" -> geordnetes "Chaos"]
Ich würde eher sagen stark komplexe Anordnung von Einzelelementen - nur chaotische Anmutung.


[orchestrale bombast Musik komponieren (Soundtrack, Trailermusik)]
[abstrakte Idee -> konkrete Umsetzung]
abstrakte Idee -> komplexe Umsetzung - ich unterstelle Komponisten jetzt einfach mal, dass sie eher flechten als wachsen lassen.



So, hierbei belass ichs erstmal - auf das eigentliche Problem geh ich später ein! :)
Ziel ist, woran kein Weg vorbeiführt.

Tobias-M
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Beitrag von Tobias-M » 20. Dez 2011, 23:54

Holla…
hinter so viel Theorie komm ich nicht mehr hinterher…
Wollen wir nicht versuchen, praktischer zu bleiben?
Ich reduzier man den Ausgangspost auf die Fragen, auf die ich aus meiner Sicht eingehen möchte:
(…) Kompositorische Probleme (obgleich spannend) finde ich in den ersten Phasen der Bildentstehung oft unheimlich frustrierend. Vor allem dann, wenn die Aufgabe die Zahl der möglichen Lösungen schon stark einschränkt (z.B. gewünschter Bildinhalt einer Auftragsillustration(…). Ich hab nicht selten das Problem in den ersten Phasen eines Bildes ziellos rumzuprobieren und mit allem unzufrieden zu sein, oder wenn mir ein Teil gefällt, passt er nicht zum Rest, oder ich seh zu lange nicht was nicht funktioniert und mir fällt es erst viel zu spät auf. Beim komponieren wäre die Entsprechung, dass ich relativ leicht einzelne Teile komponieren kann, die mir gefallen, aber nie etwas längeres, das ein sinnvolles Ganzes bildet.

Diese Momente, wo ich das Gefühl habe die Komplexität übersteigt das was ich fassen kann, fucken mich immer total ab.
Die Frage ist jetzt zu welchen Schlussfolgerungen man nun kommt.
Wenn ich Dich recht verstehe, bist Du unzufrieden mit Deinen Bildern, weil sie kompositorische Schwächen haben und Du weißt icht, wie die die Kompositionsphase erfolgreich durchstehst. Mit der Folge dass, auch wenn Einzelelemente gut ausgearbeitet sind, das Gesamtbild trotzdem unzufriedenstellend ist.
Ich kann das nachvollziehen, weil auch ich früher große Probleme mit Komposition hatte und auch jetzt manchmal (selten zum Glück) ein paar Patzer produziere, die zu beheben mühselig ist oder die ich erst gegen Ende bemerke.

Ich habe das Problem letztlich überwunden. Geholfen hat mir wie so oft die Arbeit mit Leuten, die in diesem Feld besser waren als ich selbst, in diesem Fall mein Kollege Floris Didden. Während ich früher auf die Komposition i.d.R. wenig Zeit verwendet habe, ist dies für ihn stets eines der Hauptprobleme, die er lösen muss, bevor er mit Zuversicht an die weiteren Gestaltungsfragen im Bild gehen kann. Mitunter schraubte er sechsmal so lange am Komposition herum wie ich. Da wir ja stets versuchen effizient zu sein, habe ich selbst mir diese Muße selten gegönnt. Leidvolle Erfahrung hat mich jedoch dazu gebracht, mich auf seinen Weg einzulassen, und ich habe gemerkt, dass es wirklich nützlich ist. Früher habe ich mitunter recht spät, kurz vor Fertigstellung, noch an der Komposition herumgefuhrwerkt (digitale Werkzeuge machen es einem hier auch wirklich zu leicht…!), aber das war letztlich immer ein Aufarbeiten von Fehlern, die ich vorher hätte lösen müssen.

Ich bin inzwischen zu dem Punkt gekommen, an dem ich denke:

Eine gut komponierte Skizze ist für mich schöner anzuschauen als ein high end ausgearbeitetes Bild, das einfach auseinanderfällt, mich kompositorisch irritiert.

Es lohnt sich daher, auf die Komposition viel Zeit zu verwenden.


Das wäre also mein erster Rat: Mehr Zeit auf die Komposition verwenden. Das Bild versuchen, möglichst abstrakt zu bewerten. Ich finde hier William Turner sehr anschaulich, der, obwohl er stets gegenständlich inspiriert war, mitunter Bilder malte, die in erster Linie kompositorisch motiviert sind und die man folglich ebenso als abstrakte Bilder betrachten kann:

Bild

Stellt sich also die Frage: Wie erlernt man Komposition? Wie erschafft man Bilder mit einer gewissen inneren Harmonie, die den Betrachterblick lenken, zirkulieren lassen?
Dazu habe ich für mich im Laufe der Jahre einige Regeln gefunden, aber es werden nicht die einzigen sein. In jedem Fall helfen sie jedoch, das Problem in Einzelteile runterzubrechen. Eine Art Checkliste, die helfen soll, Fehler zu vermeiden (oder die einem wenigstens bewusst macht, welche Regeln man grade durchbricht, und man sollte besser gute Gründe haben).

Meine Checkliste umfasst Fragen wie:

Wieviele "Aufmerksamkeitszentren" möchte ich im Bild platzieren?
Warum - was bedeuten sie für das Bild?
Welches ist das Wichtigste, welches das zweitwichtigste usw.?
(dies ist oft durch das Briefing vorgegeben, doch das ist ja keine Last, sondern Hilfe. Man MUSS einschränken, wenn man zu einer starken Aussage kommen möchte)
Wo platziere ich sie?
Kann das Auge in Ruhe von einem zum anderen wandern? Oder gibt es Hindernisse?
Wodurch kennzeichne ich diese Aufmerksamkeitszentren, so das auch der Betrachter meiner Intention folgen kann?
Wodurch schwäche ich die weniger relevanten Bildteile ab?


In Bezug auf die letzten paar Punkte greifen wiederum die Regeln von Kontrast (vor allem Hell-Dunkel bzw. Figur-Grund-Beziehung), Sättigung usw. Es gibt noch ein paar Fragen mehr, aber die hier sind oft die wichtigsten für mich.

Eine gute Komposition funktioniert schon im Schwarzweiß-Stadium, man denke z.B. an Sergio Toppi oder an gewisse Zeichnungen von Justin Sweet (http://www.justinsweet.com/GALLERY/DETA ... OMING1.jpg).

Wenn die Komposition Schwarz-Weiß noch nicht funktioniert, ist sie nicht gut genug und benötigt noch mehr Arbeit.

Hat man endlich das Problem der Komposition gelöst, kann man in's Graustufen-Stadium vorrücken oder Farbskizzen anlegen. Was auch immer man da anstellt, das Bild wird nicht mehr auf grundlegender Ebene "kaputtgehen", es ist also ein sehr angenehmes Gefühl, mit einer funktionierenden Komposition zu arbeiten. Gibt Sicherheit. Hilft, sich auf die nächsten Arbeitsschritte zu konzentrieren.

Damit komme ich zum Ende:
Mir hat es geholfen, Komposition als eine der wichtigsten Bildelemente zu erkennen und mit entsprechender Aufmerksamkeit zu behandeln.
Mir hat es geholfen, meinen Arbeitsprozess strikter zu organisieren. Also nicht dann noch mal an die Komposition gehen, wenn man eigentlich schon zu 90% fertig ist. Sondern schön Schritt für Schritt. Angaben sind Pi mal Daumen meine eigenen Erfahrungswerte)

- Recherche (10% d. Zeit)
- Detailstudien (5%)
- Kompositionsskizzen (15%)
- ggf. Perspektive detailliert ausarbeiten (10%)
- Tonwertstudie (5%)
- Farbstudie (10%)
- Ausarbeitung (40%)
- Letzte Änderungen/Polishing/Postproduction (5%)

Wenn ich also für eine Illu 10 Tage rechne, weiß ich, dass nur 4 Tage für die eigentliche Ausarbeitung draufgehen. Die andere Zeit dient dazu, im Vorfeld die Probleme zu lösen, auf die ich bei der Ausarbeitung zwangsläufig stoßen werde. Es lohnt sich für mich nicht, die Reihenfolge anders anzugehen oder schon mal "vorzuarbeiten". Der Mehraufwand ist immer größer, wenn man hinterher Dinge fixen muss. Diese strikte Arbeitsweise braucht Geduld und Disziplin, und das ist vllt. die schwerste Lektion. Aber wenn man sie befolgt, macht auch die Arbeit viel mehr Freude. Grade die Ausarbeitung ist dann eher ein Spaziergang, weil man eine großen Probleme mehr zu bewältigen hat, sondern man kann, wenn man noch Zeit hat, sich kleine Mini-Aufgaben beim Rendering stellen und auf diese Weise auch auf dem Gebiet noch besser werden.

Es klappt nicht immer so am Schnürchen, aber das sind dann auch stets die Bilder, die eher Probleme bereiten. Und ein Bild, das Probleme macht, heißt für mich oft, dass ich im Vorfeld einen Fehler gemacht habe.

Ich hoffe, das hilft.

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Beitrag von digitaldecoy » 21. Dez 2011, 12:55

Hui, ein extrem reizvolles Thema!

Ich schätze, Duras erster Einwurf mit der Intuition ist gar nicht so schlecht gewesen. Die Intuition basiert ja, einfach ausgedrückt, auf den Mustererkennungsprozessen unseres Hirnes. Diese sind hocheffektiv, bedürfen allerdings der vorherigen Fütterung mit Mustern. Außerdem muss das Gehirn mit zusätzlichen Informationen gefüttert werden, die es ermöglichen, die Muster zu bewerten. Das eigentliche Problem besteht also darin, die Aufgabe, mit der man sich beschäftigt, für die Intuition aufzubereiten.

Im malerischen Bereich tun wir dies, indem wir uns jahrelang mit Vorbildern beschäftigen und unsere Mustererkennung mit Vergleichsmaterial füttern. Meine Vermutung wäre, das die Bewertung dieser Muster zum Einen durch soziale Mechanismen abläuft (Werke erfolgreicher Künstler verstärken die entsprechenden Muster) und zum Anderen auf universellen ästhetischen Regeln basieren (natürliche Harmonien und Proportionen in Formen, Farbe, Klang, Zahlen...). Notwendig ist nun noch ein Arbeitsprozess, der es uns ermöglicht, effektiv mit unserer Mustererkennung zu arbeiten. Dazu fallen mir spontan zwei Ansätze ein: "von Grob nach Fein" und "Auswahl"

Von Grob nach Fein

Dieser Ansatz nutzt unsere Fähigkeit, auch aus Andeutungen komplexe Inhalte konstruieren zu können. Eine grobe Skizze kann in unserem Kopf schon die gesamte Komplexität eines Motivs induzieren. Man kann in einem groben Color Blocking schon einen Großteil des Effektes eines Bildes widergeben. Aber das Wichtigste ist, dass man in diesem Stadium noch extrem schnell Änderungen vornehmen kann. Man ist gut beraten, sein Arbeit so lange es geht, in diesem Stadium zu belassen und sein Motiv so weit voranzubringen, dass alles andere nur noch stupide Ausarbeitung ist, die man an einem beliebigen Punkt beeenden kann, ohne die Bildwirkung dadurch zu beeinträchtigen. Im Grunde meine ich damit das Gleiche wie Tobias. Nur dass ich in diesem ersten Schritt idealerweise nicht nur die Komposition behandelt wird, sondern auch Posen von Charakteren können z.B. in dieser sehr groben Form oft sehr gut auf den Punkt gebracht werden. Das Problem besteht dann darin, dies im Laufe der Ausarbeitung nicht wieder zu verlieren.

Also, zusammengefasst würde dies bedeuten, dass Problem erst in seine grundlegensten Einzelteile zu zerlegen und mit diesen intuitiv herumzuspielen. Dieses Prinzip sollte sich im Grunde auf alle übergeordneten Probleme anwenden lassen. Untergeordnete Probleme tendieren dann wohl öfter dazu, technischer und logischer zu werden - ob es nun die perspektivische Konstruktion eines Objektes, das instrumentale Arrangement einer Komposition oder die Ausgestaltung einer Programmfunktion ist. Hauptsache ist, dass die untergeordneten Probleme so gekapselt sind, dass die als Einzelprobleme überschaubar bleiben. Martin hat ja selbst den Hinweis darauf gegeben, dass man zu komplexe Probleme in weniger komplexe Einzelprobleme zerlegen sollte. Immer im Kopf behaltend, dass der Zusammenhang der Einzelprobleme auf der übergeordneten Ebene im intuitiven Prozess geregelt werden muss.

Auswahl

Dieses Verfahren ist nur in seltenen Fällen anwendbar aber natürlich hocheffektiv. Dabei wird einfach eine große Zahl von mehr oder weniger gezielten Lösungsversuchen durchgeführt und am Ende wird ausgewählt, welcher Lösungsversuch das beste Ergebnis erzielt hat. Das ist, denke ich, auch ein Verfahren, welches bei neuronalen Netzen zur Anwendung kommt. In der Fotografie kann man es auch finden, dass hunderte von Aufnahmen gemacht werden, aus denen dann einige wenige am Ende ausgewählt werden. In der Malerei ist es eher unpraktisch, so vorzugehen, obwohl die digitale Technik da auch gewisse Türen geöffnet hat. Das Entscheidende ist, dass die Auswahl nicht auf einer übergeordneten Ebene stattfindet (wie in dem intuitiven Prozess oben beschrieben), sondern schon auf der Ebene der vollendeten Ausarbeitung. Man kann also alle Eigenschaften der Ausarbeitung mit in seine Entscheidung einbeziehen, die dann widerum intuitiv - also anhand unserer Mustererkennung - stattfindet.

Ich habe so das Gefühl, dass die beiden Methoden zwei Seiten der einen Medaille sind. In beiden Fällen nutzen wir unsere Mustererkennung. Im ersten Fall nutzen wir sie, um in einfache Repräsentationen komplexere Inhalte hineinzudeuten und im zweiten Fall nutzen wir sie, um aus einer Fülle an komplexen Inhalten denjenigen auszuwählen, der der Lösung unseres Problems am dienlichsten ist. Ich nehme an, dass "Auswahl"-Ansatz die Komplexität in unserem Hirn wieder auf den vereinfachten Zustand zurückgeführt wird, der uns im "von grob nach fein"-Ansatz als Ausgangspunkt für die Hineindeutung von komplexen Informationen dient. Im Zentrum dieses wechselseitigen Mechanismus steht unser Archiv an Erfahrungen, auf dem unser Mustererkennungsprozess basiert. Je komplexer unsere Erfahrungen mit der Welt sind, desto detailreicher sind die gedanklichen Konstrukte, die sich um einzelne Ideen in unserem Hirn bilden. Wir werden in der Problemlösung also umso effektiver, je mehr Erfahrungen wir machen.

Gut, war klar dass sich am Ende alles wieder mal auf das Eine zurückführen lässe:

Üben, üben, üben!
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Beitrag von Duracel » 21. Dez 2011, 13:11

[Daniels Posting habe ich noch nicht gelesen - der ist mir dazwischengekommen]
@Tobias - Erstmal unabhängig vom Thread ein super Posting!
Außerdem hilft dieser deutlich weniger theoretische Ansatz tatsächlich den Überblick zurückzugewinnen(mehr als mein Definitionslückenschließen)

Insgesamt wäre das aufjedenfall ein Ansatz der Versucht die Komplexität erstmal zu verringern(durchs Aufgliedern in Teilschritte).
Ich habe mich gerade gefragt, inwieweit das eigentlich die implizierte Frage von Martin ist, die du hier aufgreifst.
Dabei finde ich auffällig - gerade da du ja auch ein Beispiel gepostet hast - dass du doch ziemlich sicher in dem bist, wie für dich der Ablauf und das Ziel aussehen. Du bist quasi stilistisch genordet.

Aus Martins Post lese ich aber doch eher raus, dass für ihn die Art des Endergebnises garnicht so klar umrissen ist.
Vielleicht ist das die heimliche Frage - dem könnte ich nur erwidern: Martin, wenn du nichtmal unbewußt weißt, worauf du hinauswillst, dann wird es schwierig dort anzukommen!

Ich kenn das nur zu gut, theoretisch habe ich das Rüstzeug Bilder zu malen, weiß aber (im privaten Rahmen) garnicht, was ich malen will, ja nichtmal, wie ich malen wollte.
Meine Arbeit dient da quasi als Magnet, wobei sie die Kompassnadel in eine durchaus zweifelhafte Richtung lenkt ...
Ziel ist, woran kein Weg vorbeiführt.

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Beitrag von MartinH. » 21. Dez 2011, 19:16

Für den Thread hier muss man echt Zeit mitbringen, aber für mich hat er sich auf jeden Fall schon gelohnt. Danke, dass ihr euch mit so schönen Beiträgen am Thema beteiligt! Durch eure Postings habe ich das Gefühl immer mehr Puzzleteile zusammenzubekommen. Kaktuswasser hat ja das Thema "Emergenz" bzw. "emergente Effekte" in Spiel gebracht, ich glaube da liegt der Schlüssel. Im Grunde IST doch das Malen ein emergenter Effekt. Wenn einer von uns ein Bild malt, dann sieht es auf jeden Fall anders aus, als wenn ein anderer von uns es gemalt hätte. Selbst wenn die Vorgaben exakt die gleichen wären und wir die gleichen Bücher gelesen hätten.

Das Aussehen des fertigen Bildes, wird durch so viele Faktoren beeinflusst, das man irgendwann nicht mehr in der Lage ist die Faktoren nachzuverfolgen. Genau so wie es bei dem Teilchenmodell was Kaktuswasser beschreibt nicht möglich ist den genauen Endzustand auszurechnen. Diese Emergenz in der Malerei ist ein zweischneidiges Schwert, denn einerseits wäre es furchtbar öde, wenn wir alle die exakt gleichen Bilder malen könnten, anderseits kann es frustrierend sein, wenn man selbst mal etwas ganz konkretes erreichen will.

Für mich selbst war diese Emergenz immer einer der Hauptpunkte, warum ich überhaupt ein Speedpainting gemalt habe. Ich fand es interessant irgendwas zu malen und vorher nicht zu wissen was dabei rauskommt. Am Ende war dann ein Bild fertig und wenn ich vorher kein konkretes Ziel hatte bestand sogar die Chance das ich mit dem Bild mehr oder weniger zufrieden war. Wenn ich Musik komponiere ist das eigentlich genau so.

Nun hab ich aber die (je nach Sichtweise schlechte) Angewohnheit oft Sachen machen und können zu wollen, die ich nicht kann. Das liegt daran, das ich eigentlich nur auf etwas stolz sein kann, bei dem ich das Gefühl hab weit über meine vorherigen Fähigkeiten hinausgewachsen zu sein. Ich denke mal deswegen mach ich so viel fachfremden Kram und arbeite mich immer mal wieder in was neues ein. Das ansich ist was gutes, es hat aber den Nebeneffekt, das ich mit allen meinen Bildern unzufrieden bin, weil ich selten bis gar nicht auf ein qualitatives Niveau komme, wo ich noch große Sprünge zum Rest sehe. Fortschritt beim Malen ist ja nicht skalar messbar und oft wird er einem erst Bewusst, wenn man Bilder vergleicht die man im Abstand von Jahren gemacht hat.

Daniels Post hat mich wieder näher zu meinem ursprünglichen Problem gebracht, nämlich dem was mich eigentlich stört.
@Tobias: Dein Posting ist toll und ich lerne immer gerne etwas über Komposition. Ich sehe das auch ganz ähnlich wie du das ich zuerst die Komposition lösen will und danach erst ausarbeite. Ich bin da zwar lang noch nicht auf dem Niveau wo ich hin will und der Punkt Recherche kommt unter Anderem noch zu kurz, aber trotzdem habe ich nicht das Gefühl das Komposition DAS Problem ist. Es ist vielmehr eine der Stellen wo sich das Problem zeigt.

Ich denke hier Muss man den Betrachtungszeitraum mal wesentlich erweitern und ein paar Jahre zurückschauen. Daniels Post hat mich darauf gebracht mich zurückzuerinnern an alte Bilder die ich gemalt habe und wie ich da mit der Komplexität der Aufgabe umgegangen bin. Wenn man sagt die Komplexität einer Aufgabe sei X und mit jedem Aspekt den man gesondert betrachten kann potenziert sich die Zahl der verschiedenen Möglichkeiten um einen bestimmten Wert, dann Könnte man sagen Malen hat eine Komplexität von X^n. Als Anfänger bewegt man sich noch in einem sehr kleinen Kreis von Dingen an die man beim Malen denkt und alles andere funktioniert intuitiv. Der Anfänger ist noch wesentlich unbefangener weil seine Mustererkennung weniger "vorbelastet" ist durch Jahrelanges gezieltes lernen und beobachten. Die Zahl der Möglichkeiten ist immer noch X^n, aber der bekannte Bereich von Faktoren die man bewusst beeinflussen kann ist noch klein. Die aktiv "betrachtete" Komplexität der Aufgabe steigt also erst mit dem Wissen um weitere einzelne Faktoren die man bewusst anwenden kann.

Ich wollte nochmal ein möglichst anschauliches Vergleichsbeispiel von einem alten Bild und einem neueren Bild von mir raussuchen, da fiel mir ein das ich genau dafür mal einen Thread gestartet habe:
http://forum.digitalartforum.de/viewtopic.php?t=3973

Und hier ist das erste Bild was ich in dem Thread gepostet habe:

Bild


Da sieht man sehr deutlich wie ich 5 Jahre später mit der gleichen Grundidee ein Bild besser malen konnte, weil mir eine größere Anzahl aktiv zu kontrollierender Faktoren bekannt war UND ich auch in der Lage war eine größere Anzahl als vorher auch tatsächlich gleichzeitig in das Bild einfließen zu lassen. Das ist ein wichtiger Punkt, denn auch wenn es normalerweise so ist, dass man mit neuen Kriterien die man kennen lernt, auch neue Kriterien gleichzeitig anwenden kann, so ist durch nichts garantiert, das dieses Verhältnis 1:1 gleichmäßig weiter wächst. Ich glaube bei mir hat sich da einfach ein ziemliches Missverhältnis entwickelt weil ich einerseits seit Jahren aktiv und interessiert daran arbeite immer weitere Kriterien erkennen zu lernen, gleichzeitig aber wenig bis gar nicht aktiv übe, weil ich nichts mehr in meiner Freizeit male und bei Jobs in der Regel nicht der Raum ist um mich in dem aktiven Aspekt weiterzuentwickeln, weil ich entweder auf was ganz anderes konzentriert bin, keine Freiheiten bei vielen Aspekten habe oder einfach durch Zeitanforderungen gezwungen bin Bilder stumpf runterzureißen und mein Pensum abzuarbeiten ohne experimentieren zu können. (Zitat Mullins sinngemäß "You need to schedule time for failure.")

In dem Revisions Thread den ich 2010 gestartet hab kam ich mit einem Bild auch wieder an einen Punkt wo ich frustriert aufgegeben hab, weil ich merkte das ich keine Lösung finde, die ich nicht sofort kacke find. Ich habs trotzdem gepostet (Thread Seite 2) in der Hoffnung das irgendwer was draus lernt. Darauf hin hat Tobias einen tollen Beitrag geschrieben:
Mir ist in der Vergangenheit anhand Deiner Postings schon öfter aufgefallen, dass Du die Malerei sehr analytisch betreibst, wissenschaftlich, fast schon technokratisch. Ich halte das für einen guten und unverzichtbaren Ansatz/Weg. Aber wenn Du den nächsten Niveauschritt vollziehen möchtest, muss erzählerisch mehr passieren. Du musst geistig mehr in die Welt Deiner Bilder einsteigen und deine Beobachtungen dieser Reise zurück in die Bilder stecken. Dadurch kannst Du dann von Erlebnissen, Orten etc. berichten, die man bisher so noch nicht gesehen hat.

Vielleicht zeigt sich jetzt das Problem, dass Du nur selten und länger andauernd an ein und demselben Setting arbeitest. Das könnte eine hilfreiche Übung sein. Also z.B. ein Comic illustrieren, das 48 Seiten hat; oder auch ein Kurzcomic, das aber viel Recherche erfordert, oder ein Rollenspiel. Halt irgendetwas, das Dich dazu bringt, wirklich tief in eine erdachte Welt einzusteigen.
Aus dem Ganzen ist eine extrem lange Diskussion entstanden die Daniel irgendwann getrennt hat. (Wenn ein Mod nochmal sowas macht, so möge er Bitte in dem Ursprungsthread auf den neuen verlinken, dann spart man sich die Sucherei). Hier der Link:
http://forum.digitalartforum.de/viewtopic.php?t=3997

Davon hab ich nicht alles alles nochmal gelesen. Aber bevor es jemand anders quoted, bizarrerweise habe ich mich damals gegen meterlange Schwafelthreads mit ellenlangen vergleichen zu anderen Bereichen wie Musik etc. ausgesprochen:D. Man kann wohl doch nicht aus seiner Haut...

Tobias, ich glaube ich habe damals noch nicht 100% von deinem Posting begreifen können und ich glaube ich bin jetzt ein paar % weiter. Du hast natürlich recht. Und wenn ich den Zeitraum seit deinem Posting betrachte bin ich in der Hinsicht keinen Schritt weiter gekommen. Ich hab sogar in der Zeit ein aufwändiges Projekt in einem festen Setting gemacht und dabei für meine Verhältnisse extrem viel Referenzmaterial gesammelt. Trotzdem haben die Bilder im Großen und Ganzen die gleichen Schwächen wie alle meine Bilder.
Ich hab es auch mehr oder minder aufgegeben da jemals drüber hinaus zu kommen, weil ich einfach keine eigene Motivation mehr habe zu malen und das Gefühl habe vor einem Haufen verschlossener Türen zu stehen. Ich kann mir nämlich kein Bild im Kopf präzise visualisieren, weil ich nicht genug Elemente gleichzeitig gedanklich in Relation setzen kann. Da hatte ich auch damals in dem Thread schon was zu geschrieben.

Ich hab das im Ausgangsposting hier nicht so deutlich unterstrichen, aber eigentlich geht es mir nicht ums malen. Ich wollte das nur reinbringen, weil wir da alle einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt haben. Und durch eure ganzen Postings und mein Reflektieren dieses und des alten Threads kann ich jetzt glaub ich klar sagen was mein Problem ist. Ich kann im Kopf nichts komplexes visualisieren. Es liegt so klar auf der Hand, aber ich kam nicht darauf, weil ich hauptsächlich über die Bereiche Musik und Programmieren nachgedacht hab und die nicht primär visuell, sondern abstrakter sind. Aber letztendlich läuft es darauf hinaus, ich bin frustriert weil ich komplexe Zusammenhänge in diesen Bereichen nicht so gut visualisieren kann wie ich gerne würde. Dadurch habe ich keinen Überblick und fühle mich von der Komplexität erschlagen.

Viele der malerischen "Genies" wie z.B. Frazetta berichten ja im Kopf schon ganz genau ein Bild malen zu können, das sie dann nur noch auf die Leinwand bringen müssen. Das kann ich null und ich zweifle immer mehr daran das ich das jemals lernen werde. Alles was ich im Laufe der Zeit verbessert habe, war der "Dialog" zwischen aktuellem Stand des Bildes auf dem Bildschirm (Komposition entsteht bei mir stark durch zufälliges ausprobieren), meinem rationalen Kriterienkatalog (Perspektive und Licht-/Materialeffekte) und intuitiven Entscheidungen die von meiner Mustererkennung gespeist sind (Farben vor allem, da dreh ich an den Reglern bis meine Intuition in etwa sagt "stop, so ist gut, nächsten Regler durchprobieren"). In Sachen "Pre-Visualisierung" hat sich glaube ich nicht viel getan bei mir. Leider kann man das über ein Intervall von Jahren schlecht vergleichen, weil sich Gedanken dieser Art schwer visualisieren lassen und meine Erinnerung da nicht viel hergibt.
Habt ihr da bei euch selbst große Veränderungen mit der Zeit festgestellt?

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Beitrag von schlummi » 22. Dez 2011, 01:56

Tobias, Daniel
dankeschön! :)

@Lars
bin gespannt auf den richtigen beitrag. :)

MartinH.
jetzt glaube ich zu kapieren was Du meinst. mir geht's ähnlich, auch wenn ich das ganz anders formuliert hätte. demnächst nehme ich mir zeit für ne ausführlichere antwort. :)

noch kurz kommentiert:
Viele der malerischen "Genies" wie z.B. Frazetta berichten ja im Kopf schon ganz genau ein Bild malen zu können, das sie dann nur noch auf die Leinwand bringen müssen.

ich würde mal frech behaupten, dass's so nicht stimmt. nicht so, wie Du denkst. der hat vllt ne sehr grobe kompositionsskizze im kopf, oder einen oder anderen "coolen" effekt, aber auf gar keinen fall das bild so wie es dann entstanden ist. ich hab mich mit menschen unterhalten, die genau den gleichen satz fallen liessen und so unfreundlich wie ich bin, liess ich sie nicht so davon kommen. :D
nach der ausführlichen ausquätschung waren wir etwa bei: "also rechts im bild steht eine ruine mit ner markanten treppe, wo den stufen runter so ne blutartige flüssigkeit strömt, die dann in der bildmitte ne pfütze bildet. und links sitzende jungfrau betrachtet da drin ihr spiegelbild" klingt toll! ICH habe sofort ein bild im kopf!
dann drücke ich dem armen nen stift in die hand und ... oh, wunder, der fängt genau so mit der komposition wie jeder, der "kein bild im kopf hat". die jungfrau im kopf war irgendwie grösser und von der perspektive auch bissl anders ... ah ja was hat sie denn genau angehabt? ... und und und.
also, hätt man ein "kompletes" bild im kopf, bräuchte man das nur aus der oberen linken ecke runterzuprinten. das geht auch, wenn du das ding schon einpaar mal genau so gemalt hast. sonst hat der gute Frazetta nicht mehr im kopf als Du oder ich. wozu hat er denn alle die skizzen gebraucht und fotos abgepinselt? ;)

ich würde mal ganz flapsig behaupten, dass Deine ansprüche an Dich selbst und die menschheit viel zu hoch sind. ich kenne illustratoren, die nicht mal nen kafebecher im kopf drehen können und sie fühlen sich dadurch in ihren kreativen ausdrücksmitteln keinesfalls eingeschränkt. :D
mach Dir mal kein kopf deswegen, wie Daniel sagt: "Üben, üben, üben!". würde ich nur nicht auf extrabeschäftigung fixieren! die jobs sind doch genau dafür da! erfahrung sammelt man ja nicht mit tutorials oder übungsaufgaben, die lässt man sich üblicherweise bezahlen. ;)

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Beitrag von digitaldecoy » 22. Dez 2011, 12:00

@ MartinH.:[/b]

Du hast die Diskussion in eine interessante Richtung gelenkt. Ich habe selbst eine Phase durchlebt, in der ich gedacht habe, ich könnte den Entstehungprozess meiner Bilder verbessern, indem ich sehr viel Mühe in eine "Previsualisierung vor dem Geistigen Auge" investiere. Praktisch sollte das dann so aussehen, dass ich die Augen schließe, und das Bild in einem Monolog für mich beschreibe. In der Beschreibung wollte ich das Bild langsam entdecken und vor meinem geistigen Auge sollte ein möglichst konkretes Bild entstehen, auf dass ich mich dann so konzentrieren würde, dass ich es - zumindest in Grundzügen - exakt so auf den Canvas übertragen könnte. Ich wollte also das letztendliche Gebilde in all seiner Komplexität vorwegnehmen und es anschließend nur noch rekonstruieren. Ich glaube, dass dies ein heilloser Irrweg war.

Ich merke derzeit bei der Produktion meines Graphic Novels, dass die Problemlösungsstrategien des menschlichen Gehirns auf die "Arbeit am Objekt" ausgerichtet sind und darüber hinaus stets auf überschaubare Teilprobleme fokussieren. Ich kämpfe gerade damit, ein geeignetes Bild dafür zu finden ... vielleicht kann man es mit einem vielfach verheddertem Kabel vergleichen. Jeder kennt diese Fälle, wo man ein langes Kabel aus einer Kiste holt und es komplett verwurstelt ist. Wie geht man in so einem Fall vor? Man sucht sich den Anfang mit dem Stecker und schaut, durch welche Schlaufen man ihn führen muss, um das Gewusel zu entwirren. Was man NICHT macht ist, sich hinzusetzen, das Wirrwar lange zu betrachten, um dann in einem einzigen Zuge, mit genau den benötigten Handgriffen, den Knoten zu lösen.
Ein weiteres Beispiel ist mir im Internet über den Weg gelaufen. Da gibt es ja diese Leute, die die Rubiks-Würfel in rasender Geschwindkeit lösen. Wenn man selbst mal vor so einem Würfel gesessen hat, denn fängt man vielleicht an, im Geiste ein paar Drehungen zu machen und sich dabei vorzustellen, wo das angepeilte Farbfeld danach landen würde. Aber dann merkt man, dass sich dabei ja alle anderen Felder auch verschieben und bei dem Versuch, das alles im Auge zu behalten, gibt man schnell auf und fängt einfach an, die Lösung durch Ausprobieren zu suchen. Der Witz ist, dass die Leute, die den Rubiks-Würfel in hoher Geschwindigkeit lösen, nicht etwa das Problem durchschaut haben, sondern sie folgen einfach einem Regelwerk, nachdem man ein Farbfeld an jede beliebige Position bringen kann, wenn man bestimmte Drehungssequenzen durchführt. Und nach dem System bringen sie einfach ein Feld nach dem anderen an die gewünschte Position. Sie konzentrieren sich immer nur auf das aktuelle Feld und kümmern sich gar nicht darum, was sie durch ihre Aktionen an den angrenzenden Feldern auslösen.

Ich denke, man könnte noch zahlreiche andere Beispiele finden aber worauf ich hinaus will ist, dass unser Gehirn wohl einfach am besten funktioniert, wenn wir aktiv mit dem Problem interagieren. Das schlägt auch wieder in die gleiche Kerbe wie mein Punkt von oben, dass man das Problem für den Mustererkennungsprozess verwertbar machen können muss. Man muss das Problem quasi "haptisch" machen, damit wir es befingern, herumschieben und anordnen können. Ich denke, hier liegt eine der großen Herausforderungen für das Gebiet der Visualisierung. Es gibt ja z.B. Ansätze, Programmierung in visueller Form darzustellen. Die Node-Systeme in vielen 3D-Programmen sind da ein Beispiel aber ich habe auch schon Ansätze gesehen, mit denen z.B. Google die Programmierung von Apps für Jedermann zugänglich machen will, indem man Code-Schnipsel wie Puzzleteile zusammensteckt (sorry, gerade keinen Link zur Hand). Ich glaube auf jeden Fall, dass die Zergliederung von Problemen in verständliche Einzelteile ein Schlüssel zur Lösung komplexer Probleme ist. Ein beeindruckendes Beispiel dieses Ansatzes findet man z.B. bei dem Projekt Reactable. Ich habe mich immer schon für elektronische Musik interessiert. Aber Sythesizer waren klassischerweise immer aufgebaut wie elektrotechnische Geräte und daher kam ich nie damit klar. Mit der Reactable-App auf dem iPad kann man super herumspielen und intuitiv Lösungen für Probleme finden, für die man früher noch Kabel in irgendwelche Buchsen stecken musste, denen man nicht ansehen konnte, was sie eigentlich tun.

Ich persönlich beschäftige mich auf jeden Fall derzeit sehr mit der Frage, wie man bestimmte Probleme in eine Form bringen kann, um diese dann intuitiv zu bearbeiten. Derzeit bin ich z.B. auf der Suche nach einem System, in dem man Geschichten datstellen kann. Besonderes Interesse liegt dabei für mich in der Frage, wie man Abhängigkeiten in einer Story so visualisieren könnte, dass die Änderung eines Storyelementes automatisch aufzeigt, welche Auswirkungen dies auf verbundene Storyelemente hat. Wir reden hier letztendlich von einem logischen Netzwerk, in dem sich alle Knotenpunkte gegenseitig beeinflussen. Im Moment gehe ich übrigens so vor, dass ich bestimmte Schnittstellen definiert habe und die Bereiche, die über diese Schnittstellen verbunden sind, in sich gekapselt sind. So kann ich jeden Einzelbereich der Story für sich betrachten und muss nur aufpassen, dass er zu der Schnittstelle kompatibel bleibt. Viel befriedigender wäre es jedoch, jedes kleinste Element der Story jederzeit zu jedem anderen kleinsten Element in Beziehung setzen zu können und DARÜBER den Überblick bahalten zu können. Ich schätze, das ist gar nicht möglich, denn wenn ich am Ende eine solche Visualisierung vor mir sehen würde, wäre sie vermutlich wie ein verwursteltes Kabel und ich würde doch wieder nur an einzelnen Schlaufen zupfen und abwarten können, was passiert.
Zuletzt geändert von digitaldecoy am 22. Dez 2011, 12:03, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag von Duracel » 22. Dez 2011, 12:03

[Edit: muß Daniel immer zeitgleich posten? :D]

Schlummi - Ich habe mich gestern kurz über Skype mit Martin genau darüber unterhalten.
So kann ich das nicht stehen lassen.
Menschen denken definitiv unterschiedlich stark visuell. Der Extremfall wäre sicherlich der (von Geburt an)Blinde, der zwar durchaus plastisch denken kann, aber nicht z.B. in Tonwerten.
Ich habe mich auch schon mit Personen unterhalten, die sich an viele Dinge auf geruchliche Art erinnern, was bei mir persönlich nur einen sehr geringen Anteil meiner Erinnerungen ausmacht; im Extremfall denke ich an eine Aufgabe bei Schlag-den-Raab, bei der Stefan Raab nichtmal Zimt errochen hat. Ähnliches gilt auch für die übrigen Sinne.
Zurück zur Previsualisierung.
Ich habe selbst bei ein paar meiner Bilder genau das erlebt, sie mir vorab sehr präzise vorgestellt zu haben. Solche Bilder male ich einem Bruchteil der normalen Zeit!
Natürlich sind solche Vorstellungen nicht so präzise abrufbar wie für ein ausgearbeitetes Gemälde nötig. Und ich brauche für diese Kontemplation ein hohes Maß an Ruhe - am besten gelingt mir solcherlei also im Halbschlaf. Auch gibt es da extreme Qualitätsunterschiede - ich schaffe es leider nicht gezielt in einen halbbewußten Zustand einzutauchen, der mir diese absolut real wirkenden Bilder zuspielt, und zudem sind diese dann wesentlich schwerer gedanklich festzuhalten. Das ist genaugenommen das Schwierigste und gelingt bei mir leider nur äußerst selten[weshalb nicht viele Bilder auf diese Weise entstanden sind - ich sollte es mehr trainieren ;)]. Wobei es leichter wird durch die Erfahrung Bilder präzise analysieren zu können, das geht mit den eigenen geistigen Vorstellung nämlich genauso!
Meiner Erfahrung nach ist einer der schwierigsten Aspekte der visuellen Vorstellung das Format - zumindest meine Gedanken scheeren nicht um solche schöden Begrenzungen, bzw. ich müßte mich da speziell drauf konzentrieren.

Um das Ganze nochmal mit einem andern Beispiel abzurunden. Ich habe Martin gefragt, wie er sich Zahlen vorstellt; oder Daten bis hin zu Zeitleisten. Er meinte, dass er sich vieles u.a. über Eselsbrücken oder logische Assoziationen merkt; das fand ich auffällig! Mit Eselsbrücken konnte ich schon in der Schule nichts anfangen. Im Gegensatz zu Martin stelle ich mir Zahlen und Zeitentwicklungen grundsätzlich in einer Art Linie vor. Meist von links-unten nach rechts-oben, wobei bestimmte Rhythmen(Tag/Nacht - die wiederkehrenden Monate) bestimmte Kurvenfolgen haben.
Bei Zahlen - ich habe seit einiger Zeit die Angewohnheit, zum Einschlafen Multiplikationen zu rechnen[z.B. 7hoch2 bis 7hoch10], dabei geht die Linie lustigerweise ab ca. einer Millionen senkrecht nach oben und bei noch höheren Zahlen nach links-oben, beschreibt also eine Kurve.
Für mich irgendwie ganz normal, aber Martin hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass das nicht selbstverständlich ist.
Ziel ist, woran kein Weg vorbeiführt.

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Beitrag von Duracel » 22. Dez 2011, 12:17

Kurze Anwort noch zu dir, Daniel.
Das was du schreibst, das bist so absolut Du, dass ich mir nicht sicher bin, ob diese Wahrheit allgemeingültig ist, oder speziell für Dich gilt.

Das was du beschreibst, ist der Normalfall, wie jemand Streichhölzer(sagen wir mal wild -neben-einander) zählt ... nichtsdestotrotz gibt es auch Autisten, die sehen auf einen Blick wieviele Streichhölzer da liegen.
Ich weiß zumindest, dass wenn man sich konzentriert und übt, z.b. 5erBlöcke als eine Form wahrnehmen kann, und dann nurnoch zählen muß 5-10-15-20 etc.; und sicherlich lässt sich das auch bis zu einem gewisssen Grad steigern.
Ziel ist, woran kein Weg vorbeiführt.

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Beitrag von digitaldecoy » 22. Dez 2011, 14:41

Der Wunsch nach übermenschlichen Fähigkeiten spielt natürlich auch eine Rolle in diesem ganzen Themenkomplex. :) Ich denke, hier muss man trennen zwischen "Tricks", die jeder mit etwas Übung beherrschen kann (siehe Rubiks-Würfel-System) und speziellen Fähigkeiten, die man nur erhält, wenn das Gehirn auf eine bestimmte Art organisiert ist. Ach so, und man muss vielleicht auch schauen, wie Technologie die eigenen Möglichkeiten erweitert. Tobias hatte ja schon geschrieben, dass die digitale Technik einem viele Möglichkeiten eröffnet, Dinge zu ändern, die man früher auf Leinwand nicht mehr hätte ändern können. Das Internet ermöglicht einem eine ganz neue Form der Recherche, neuartige Interfaces ermöglichen generell eine neue Qualität der Interaktion.

Was ich mich wirklich frage ist, ob es irgendwann wohl mal möglich sein wird, unsere Mustererkennung direkt aktiv Inhalte schaffen zu lassen. Also, ich z.B. habe manchmal das Gefühl, dass ich schon so viel klassische Musik gehört habe, dass ich eine halbswegs passable Sinfonie zusammenbringen könnte. Nur habe ich nie die Werkzeuge erlernt, die dazu notwendig wären. Im Kopf kann ich die Musik "abspielen" aber der technische Prozess, um das Werk tatsächlich zu materialisieren, existiert nicht. Für mich wirft das außerdem die Frage auf, wie konkret die Dinge eigentlich sind, die in unserem Kopf in unser Bewusstsein projiziert werden. Sind die Inhalte in Träumen eigentlich wirklich so klar und greifbar, wie sie uns mitunter erscheinen, oder trickst uns unser Gehirn nur aus? Um es wieder auf das konkrete Beispiel mit dem previsualisierten Bild zu beziehen: kann ich mir tatsächlich ein Bild in seiner vollen ausgearbeiteten Komplexität vorstellen, oder kommt mir das nur so vor und wenn ich genauer "hinschaue", verschwimmt auf einmal alles? Ich glaube halt, dass ein Bild, sobald man den ersten Pinselstrich setzt, auf der Leinwand entsteht und nicht mehr im Kopf. Das ist schwierig auf den Punkt zu bringen... ich habe das Gefühl, dass sobald sich etwas auf der Leinwand tut, der Kopf das Geschehen auf die Leinwand verlagert und dort mit den existenten Formen und Farben hantiert (über unser motorisches System) anstatt das Bild im Kopf weiterzumalen und die Leinwand sozusagen immer auf den neuesten Stand zu bringen. Teufel, ist das schwer auszudrücken...

Wird auch vielleicht alles zu subjektiv und führt von eigentlichen Thema weg.

Was vielleicht wieder ein bißchen näher zum Thema hinführt ist der Gedanke, dass man sich oft vielleicht auch einfach fragen muss, welches Problem man gerade eigentlich zu lösen versucht und ob man sich auf der richtigen Ebene befindet, um es zu lösen. Anschauliches Beispiel dazu wäre für mich persönlich Webdesign. Wenn ich ein Element auf meiner Webseite verschieben oder in der Größe verändern möchte, dann muss ich das im HTML-Code bewerkstelligen. Die Entscheidung, wo ich welche Elemente unterbringen möchte, fälle ich jedoch in einem 2D-Layout in Photoshop. Erst wenn ich dort für jedes Element Größe, Position etc. festgelegt habe, begebe ich mich in die Programmierung und setze das Layout um. Wenn Martin schreibt, dass er Probleme damit hat, Achievements einzubauen, weil diese mit allen möglichen Teilen des Programmes verknüpft sind, dann denke ich dass sein Problem nicht darin besteht, dass das Problem zu komplex ist, sondern dass er gerade auf einer Ebene aktiv ist, auf der das Problem nicht gelöst werden kann. Er steht nämlich gerade knöcheltief im Programmcode und sieht um sich herum überall Punkte, an denen auf einmal diese Achievements angeknüpft werden müssen. Wie schlummi aber schon ganz richtig festgestellt hat, ist das Einrichten von Achievements überhaupt kein großes Problem, wenn man dies auf der allereinfachsten Ebene der Programmorganisation schon von vornherein eingeplant hat.

Dieses Problem - auf der falschen Ebene nach einer Lösung zu suchen - kenne ich persönlich auch sehr gut. Beim Malen passiert es mir immer wieder mal gerne, dass ich anfange, an irgendwelchen Farbreglern zu drehen, wenn das Ergebnis mir irgendwie noch nicht passt. Meistens jedoch komme ich später an den Punkt wo ich merke, dass in der Komposition irgendwas nicht gestimmt hat, ich nur blind dafür war.
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Beitrag von MartinH. » 22. Dez 2011, 16:55

@Daniel: Das Beispiel mit dem zu entwirrenden Kabel ist ganz gut. Und das was du über die Art wie du Verzweigungen und Auswirkungen beim ändern deiner Story kapselst und vernetzt klingt 1 zu 1 nach einer Vorgehensweise aus der Programmierung. Schnittstellen werden definiert und Implementationsdetails bleiben verborgen.
Das andere was du im Bezug auf Softwareentwicklung ansprichst ist UML:
http://de.wikipedia.org/wiki/Unified_Modeling_Language
Da hab ich bisher aber noch keinen rechten Zugang zu gefunden, um bei deinem Beispiel zu bleiben komm ich mit dem planlosen Kabel entwirren besser klar. Im Moment beschäftige ich mich übrigens gar nicht mit dem Achivement Problem sondern versuche dem Partikelsystem der Grafik Engine 2 neue Features hinzuzufügen. Ich werd das andere schon noch gelöst kriegen, aber im Moment widme ich mich erstmal anderen Dingen.

@Schlummi: Dass meine Ansprüche zu hoch sind stimmt sicher, aber in dem anderen Punkt würde ich dir auch widersprechen. Wie Dura schon erwähnte gibt es schon zwischen ihm und mir breite unterschiede in der Art wie wir Dinge vor dem geistigen Auge visualisieren (oder eben auch nicht). Gerade Dinge wie Zeitabfolgen, chronologischer Kontext und Jahreszahlen kann ich mir einfach nicht merken.
Wir hatten im alten Forum mal einen Thread wo es um Ähnliches ging, da hat Igino mal gesagt, dass er viel zur Übung im Kopf gemalt hat und gedanklich Strich neben Strich setzt. Wenn ich sowas versuche hab ich nach nichtmal 10 Strichen vergessen wie der Anfang war. Ich kanns mir einfach nicht vorstellen. Igino ist übrigens ziemlich gut, falls du seine Bilder nicht kennst ;).
Und was Frazetta angeht kann ich mich nur auf Bücher und die Frazetta Doku stützen die ich auf DVD habe. Die mag hier und da auch etwas idealisiert sein, aber ich finde es gibt schon genug Hinweise dafür, dass Frazetta eine sehr gute Fähigkeit hatte sich Bilder zu merken oder schon im Geiste zu malen. Z.B. war er einer der Leute, die niemandem irgendwas erklären konnten und konnte schon als Kind überdurchschnittlich gut zeichnen (zumindest nach dem was ich gehört und gelesen hab über ihn), das halte ich für typische Kennzeichen eines "Genies" in einem Bereich. Mullins ist denke ich nicht so ein krasses Naturtalent, der hat erst relativ spät angefangen Malen und Zeichnen ernsthaft zu betreiben und hat nicht nur brutal viel geübt und analysiert, sondern sich auch intensiv mit Themen beschäftigt. Er hat unheimlich viel Hintergrundwissen über die Dinge die er malt und lässt das alles in seine Bilder einfließen. Er zieht die Komplexität seiner Bilder zu einem großen Teil aus Research und schon vorhandenem Wissen.

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Beitrag von tr4ze » 22. Dez 2011, 18:03

Hallo Daniel,

also was du da beschriebst erinnert mich stark an moderne objektorientierte Programmierung und das Konzept der Entwurfsmuster.
Das Problem, diese abhängigkeiten in einem komplexen System in den Griff zu bekommen ist nämlich nicht ganz neu.


http://de.wikipedia.org/wiki/Entwurfsmuster

Ob sich solche Musterkataloge nun aber auch auf die Malerei anwenden lassen sei mal dahingestellt. Vieleicht fällt dir dazu ja was ein. :D

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Beitrag von schlummi » 3. Jan 2012, 03:25

wo ich mir doch kurz eingebildet habe hauptproblem zu begreifen, zeigen die nachfolgende beiträge, dass es dem nicht wirklich so ist. :D
mich beschleicht das gefühl, dass Du das ganze etwas zu biologisch siehst... oder zu physiologisch? dem sei angemerkt, dass wir (als wesen) etwas "komplexes" wahrzunehmen gar nicht im stande zu sein dürften. ich möchte als beispiel die (classische) chinesische malerei erwähnen wo zwischen "viele" und "masse" die zahl 5 steht. z.b. 5 bäume (auch noch 2+3 gruppiert) werden als höchstgrenze für (einzel)objekte wahrnehmbarkeit kanonisiert. vor einer weile hab ich auch zufällig im spiegel aufgeschnappt, dass genau bei 5 objekten auch die "nicht chinesen" gerade noch mitgingen... ist schon spannend, nicht wahr? :)
unser hirn packt wohl ohne spezielle training nicht mehr. und ich frage mich ob das ein fluch oder doch ein segen wäre.
da komme ich elegant zurück zu den "bildern im kopf". :D
klar gibt's menschen die so was können. z.b. der gute da http://www.stephenwiltshire.co.uk/. ich hab ihn in nem doku gesehen. der wurde über london geflogen und am leinwand ausgesetzt. das ist der mensch, der WIRKLICH bild im kopf hatte. von links nach rechts hat er sein bild "ausgedrückt". erste reaktion: HAMMER! nur... der typ kann nicht mal sprechen. und seine wimmelbilder mögen auf eigenartige weise zustande kommen, doch an sich nur durch eben diese entstehungsweise wertvoll. ist er ein künstler? ist er ein genie?
Sind die Inhalte in Träumen eigentlich wirklich so klar und greifbar, wie sie uns mitunter erscheinen, oder trickst uns unser Gehirn nur aus?

genau das habe ich gemeint. und wenn ich im rentenalter ein DVD über mein künstlerisches wirken herausgeben sollte, werde ich, hoffentlich, genug bilder im kopf haben um die durcheinander bringen zu dürfen. doch behaupten würde ich das gegenteil! ...achja: "als ich das da gemalt habe... da habe ich an dich gedacht... an dein gesicht, deine hände... da hatte ich sofort dieses bild vor meinen augen! ohne dich wäre's ja gar nicht entstanden... usw." ...wir kennen alle tricks! ;) :D
gerade Mullins und andere "happy accidents"-adepten zeigen in jedem video, dass sie kein bild im kopf haben. nur eine idee davon ob's ein landschaft oder char werden soll. ...vllt sogar das unverbindlich.

ich schätze, ich kann einige von Dir angesprochene "schwierigkeiten" bei mir selbst sehr gut beobachten und hab sogar schon "diagnose": ich denke zu viel. ich kenne auch (zumindest für mich) die lösung: routine. bei mir läuft's so, dass irgendwann man einfach zu "müde" zum denken wird. dann läuft's irgendwie ganz meditativ von selbst... wie man diese "zufällige" entstehung routinemässig nutzt, da arbeite ich noch dran. :)

alles das bezieht sich rein auf "künstlerische". wenn's ums coden oder andere "präzise" sachen geht, da kann ich mich gar nicht so entspannen... wenig routine? :?

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Beitrag von Duracel » 3. Jan 2012, 17:05

Wie kommst du darauf, dass der nicht sprechen könne? So entstehen Mythen.

"He learned to speak fully at the age of nine."
Und dabei spricht er heute -ganz normal- wie auf den Videos zu hören ist.

Sorry, aber wenn du hier Sachen verlinkst und dazu schreibst, dass der Typ nicht sprechen kann, dann erwarte ich, dass das stimmt!
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Beitrag von schlummi » 4. Jan 2012, 01:53

Duracel
oh, sorry... ich hab mir die site nicht mal angeschaut, nur von seinem aussehen rausgegoogelt. das doku ist schon ne weile her und da war immer seine schwester mit dabei um ihm brötchen zu kaufen... wohl nicht richtig aufgepasst. du hast recht von allen seiten, shame on me! :cry:

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Beitrag von schlummi » 9. Feb 2012, 14:58

hiermit möchte ich einige meiner aussagen etwas revidieren. nach dem "Ich mal mir eine Fantasiewelt..."-thread muss ich wohl mein verständis des begriffs "(k)ein bild im kopf haben" deutlich korrigieren... :oops: :?

ich habe noch weiter darüber nachgedacht... ist diese "andere" art zu denken das was einen "nichtkünstler" ausmacht? da denke ich immer an salvador dali, der einfach, quasi linear, alles, was er für "wissenschaftlich" hielt visualisierte. von sigmund freud bis string-theory. der konnte ganz bestimmt keine zahlen merken, war aber von derartigen intellektuellen überforderungen einfach fasziniert. gefühle vs kognitiv mit grauzone dazwischen...

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