Hi Tobias!
Wir gehen beide von den selben Zahlen aus, da haben wir schon mal eine prima gemeinsame Basis.
Prognosen für das Jahr 2050 sind allerdings alles andere als seriös. Vergleiche mal die beiden Graphen aus meinem vorangegangenen Post. Im zweiten Graph siehst Du, was Experten für Deutschland für die letzten beiden Jahreschätzen, im ersten dagegen, was wirklich geschah. Kaffeesatzleserei.
Der Unterschied zwischen uns ist, was wir aus den Zahlen lesen. Mein Denken ist mit Sicherheit auch dadurch geprägt, dass ich mal die Thematik von der Pike auf habe lernen müssen. Ich bin ausgebildeter Sozialversicherungsfachangestellter, auch wenn ich das nicht mehr praktiziere.
Seit Anbeginn der Zeit stehen alle Gesellschaften vor der selben Ausgangssituation: ein Teil der Gesellschaft kommt für den Unterhalt auf, ein Teil der Gesellschaft kann dies noch nicht tun, ein weiterer nicht mehr. Die Gesellschaft lebt von dem, was sie gerade erwirtschaftet. Die, die noch nicht oder nicht mehr erwirtschaften, sind davon abhängig, was ihnen überlassen wird.
Die erste Frage, die sich stellt, ist: Können wir uns das leisten?
Das zu beantworten war früher sehr viel übersichtlicher: Wir haben soundsoviel Bärenfelle, soundsoviele Beeren, und wir sind eine Gruppe aus soundsovielen. Leider kam es da immer wieder vor, dass es nicht langte. Die, die für die Nahrungsbeschaffung verantwortlich waren, mussten leistungsfähig gehalten werden, da musste man notgedrungen um des Überlebens willen zuweilen hart sein.
Bei der Größe der heutigen Gesellschaft ist das nicht so offen ersichtlich. Um darüber Klarheit zu erlangen, erhebt man das Bruttoinlandsprodukt. Und dies ist geradezu explodiert. Also das vielfache an Beeren und Bärenfelle mehr als in der guten alten Zeit, als man es sich noch leisten konnte. Die Bevölkerung ist in der selben Zeit allerdings kaum gewachsen. Wir sind also in der glücklichen Lage, die Frage mit einem: "Ja, aber locker!" zu beantworten.
Darauf schließt sich die zweite, bedeutend leidigere Frage an: "Wollen wir uns das überhaupt leisten? Unsere Gesellschaft beantwortet diese Frage leider mit einem klaren "Nein!". Eine winzigkleine Gruppe tut dies aus Eigeninteresse, der Rest, weil sie gezielt desinformiert werden und sich daher über ihre Aussage und deren Tragweite gar nicht im Klaren sind. Sie glauben, sie beantworten Frage 1, und sehen nur ihren Anteil, nachdem das Fell des Bären bereits verteilt wurde.
Dabei hat sich die Situation essentiell verändert. Wir haben zwar einen Riesenberg an Bärenfellen, aber den sieht keiner, denn vorher tritt ein gepflegter Herr vor und sagt: "Ihr wisst, ich habe das Monopol an Speeren, außerdem gehört mir der Wald. Ich habe zwar noch nie einen Speer gefertigt, weiß auch gar nicht, wie das geht, Bäume habe ich auch nie gepflanzt, und für das Hüten des Waldes sind auch andere zuständig. Aber das tut ja wohl nichts zur Sache, wir wollen ja keine Neiddebatte führen. Hier ist euer Anteil. Ein altes Eichhörnchen. Okay, es ist von Tollwut gezeichnet, aber mehr gibt eure Arbeit halt nicht her, das werdet ihr wohl einsehen. Teilt es euch gut für den Winter ein." Und dann schauen wir auf das Eichhörnchen, dann auf uns und schließlich auf unsere Alten. Und wir wissen, wir haben ein Problem. Wir können natürlich unsere Alten den Wölfen überlassen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es auch andere Alternativen gibt.
Du hast ein paar sehr interessante Gedankengänge zusammengetragen. Ich erlaube mir mal, meine Sicht der Dinge dem Gegenüber zu stellen:
Tobias-M hat geschrieben:1 - Man erhöht die Versicherungskosten oder Steuern für die Erwerbstätigen – wie eben durch die Abgabe, die jetzt diskutiert wird. Problem: Geht nur bis zu einem gewissen Punkt, ohne die Erwerbstätigen auszubluten
Mal einen kurzen Blick aus Sicht der GKV:
Unser Gesundheitssystem ist überteuert und ich halte es für bis ins Mark korrumpiert, insbesondere den Pharmaziebereich. Es ist eines der teuersten der Welt, dennoch weit davon entfernt, noch zu den leistungsstärksten zu gehören, geschweige denn das leistungsstärkste zu sein, als das es uns immer verkauft wird. Leistungen wurden ständig als nicht finanzierbar gekürzt und alles landauf, landab mit Zuzahlungen überzogen. Die Beiträge mussten dennoch ständig erhöht werden. In dieser Situation haben wir uns einen Bärendienst erwiesen, ausgerechnet die FDP an diesen Futtertrog zu lassen.
Da mutet es schon verwunderlich an, wenn ich Dir gleichzeitig sage, dass das nicht das eigentliche Problem ist. Denn im Verhältnis zum BIP sind die Kosten kaum gestiegen. Getragen wird die Sozialversicherung aber ausschließlich von den Werktätigen, die die Schwächeren unserer Gesellschaft sind und schon lange von der Steigerung des BIP abgehängt wurden. Zudem gibt es Beitragsbemessungsgrenzen, die für die Wohlhabenderen dieser Gruppe de facto niedrigere Beitragssätze bescheren, und die sich, wenn es ihnen günstiger erscheint, wahlweise ganz aus dem System verabschieden. Das System konnte nur funktionieren, solange die Arbeitnehmer einen halbwegs angemessenen Anteil an dem von ihnen erwirtschafteten Gewinn erhielten. Das ist heute natürlich unzumutbar, da dies den Standort Deutschland gefährden würde.
Ich halte es für die einzig vernünftige Lösung zur Erhaltung der großartigen Errungenschaft des Sozialstaates, diesen steuerlich zu finanzieren. Jeder gibt nach seinen Möglichkeiten, der Starke tritt für den Schwachen ein, wie es einmal gedacht war. Nur so kann man das System wieder vom Kopf auf die Füße stellen.
Tobias-M hat geschrieben:2 - Man erhöht Steuern für angesammeltes Kapital (Renten, Grundbesitz, Aktien…). Problem: Es wird nachträglich etwas genommen, was die bürgerliche Mitte glaubte, erwirtschaftet zu haben. Unterminiert die Glaubwürdigkeit unseres Staates bei der ihn tragenden Schicht
Dort, wo zurzeit der Beginn des Spitzensteuersatz angesiedelt ist, müsste man nach meiner Meinung nach sogar noch etwas entlasten, dafür müsste Schluss sein mit der darauf folgenden Flattax, Kapitalansammlungen müssten in der Tat mal besteuert werden, und vor allem müsste der Staat mal was gegen Steuerhinterziehung tun, anstatt Steuerbeamte, die ihren Job ernst nehmen, mit psychiatrischen Gefälligkeitsgutachten aus dem Amt zu kegeln. Das würde natürlich Vertrauen unterminieren - bei denen, die sich Politik und Gesetze kaufen können. Dieses Rezept hat sich schon einmal bewährt. Roosevelt hat so die Vereinigten Staaten aus der Krise geführt. Studien haben erwiesen, dass davon sogar die profitierten, die dazu mal zahlen mussten. Selbst für sie führte dies zu einer Steigerung der Lebensqualität. Nicht geheilt hat es allerdings den verletzten Stolz, den ein paar Nullen weniger auf dem Bankauszug bedeuteten.
Tobias-M hat geschrieben:3 - Man findet technologische Innovationen – Stichwort japanische Pflegeroboter. Problem: Energetisch sinnvoll? Psychologisch vertretbar?
4 - Man findet organisatorische Innovationen - Möglicherweise gibt es Pflegeeinrichtungen, die bei verringertem Mitteleinsatz dennoch ihre Qualität bewahren oder sogar steigern. (Beispiele: Alten-WGs? Deutsches Altenheim in Vietnam?)
Ich denke, diese beiden Punkte kann man zusammenfassen. Meine Idee dazu: man erkennt endlich die dazu benötigte Arbeit in der Pflege an und bezahlt sie. Dann finden sich genug qualifizierte Kräfte, und das Geld kreist endlich wieder in den Wirtschaftskreisläufen, in die es hingehört.
Tobias-M hat geschrieben:5 - Man kürzt Renten- und Pflegeleistungen – Problem: Voraussichtlich sinkende durchschnittliche Lebenserwartung.
Beides geschieht bereits.
Tobias-M hat geschrieben:6 - Man schafft Initiativen für das Bevölkerungswachstum – siehe bezahlte Elternzeit wie jüngst eingeführt. Problem: Hilft wenn überhaupt nur sehr sehr langfristig.
So, wie ich das sehe, ein doppelter Schuss in den Ofen. Kinder sind etwas wunderbares, aber unser Problem ist nicht, dass wir zu wenige Menschen haben. Mal davon abgesehen, dass die Weltbevölkerungszahl eine Exponentialkurve ist, die sich seit meiner Geburt bereits verdoppelt hat, und ich es der Welt nicht zutraue, eine weitere Verdopplung auszuhalten.
Und das Geld bekommen wieder die, die es am wenigsten benötigen. Die Hintergedanken eines lebensunwerteren Lebens, das uns überflutet, und eines lebenswerteren Lebens, das unterstützt werden soll (Förderung von Akademikerkindern), stammt zudem aus Zeiten, die ich längst hinter uns gelassen hoffte.
Tobias-M hat geschrieben:7 - Man wirbt offensiv Menschen aus anderen Nationen an, um das mangelnde Bevölkerungswachstum auszugleichen. Problem: Soziale Verwerfungen.
Das Ziel sind billige Arbeitskräfte aus dem Ausland. Unsere Regierung scheint der Auffassung zu sein, ausländische Arbeitskräfte beschäme man mit Lohn für ihre Arbeitsleistung. Und das muss ja nicht sein.
Die Griechen sind jetzt in einer Notlage, und sie werden versuchen, dieser zu entkommen. Dies wird das Lohnniveau hier in Deutschland weiter drücken. Und das wird zu sozialen Verwerfungen führen. Wir leben in keinen lustigen Zeiten.
Tobias-M hat geschrieben:8 - Man verändert die Zusammensetzung unserer Volkswirtschaft hin zu einem Modell, das von einer sinkenden Bevölkerungszahl eher unabhängig ist – die Briten haben z.B. einen internationalen Finanzsektor aufgebaut. Problem: Machbarkeit, langfristige Tragfähigkeit.
Das ist nicht die Lösung des Problems, es ist der Kern des Problems. Und schau Dir oben mal die Daten von UK an. Dazu Austeritätspolitik, wie wir. Die laufen auf die selbe Katastrophe zu.
Tobias-M hat geschrieben:9- Man errichtet internationale Hilfsbündnisse – kurz: Andere Nationen helfen durch finanzielle Transfers, unsere Situation abzumildern. So könnte sich die EU als Transfer- und Fiskalunion sich als bedeutend herausstellen
Ich glaube nicht, dass Deutschland heute Hilfe von außen benötigt. Aber wir täten mal gut daran, anderen zu helfen.
Junge, das war ja ein ganz schöner Wust. Danke, dass Du bis hierher durchgehalten hast.